Das Herz des Menschen: Roman (German Edition)
dann lies es für die nächste Stunde. Du hast fünf Tage Zeit. Gísli reicht ihm das Buch, es liegt leicht in der Hand.
Ist es ernst gemeint?
Das Buch?
Nein, das Verbot.
Denk nicht daran, sondern an das Buch! Es ist wichtig, dass es auch Menschen gibt, die über Salzfisch und Plackerei hinausdenken, sonst kann man uns gleich erschießen.
Wovon handelt es?, fragt der Junge und blättert die ersten Seiten durch. Ist es auf Norwegisch?
Was weiß ich?, antwortet Gísli und holt seine englische Jacke, die er letzten Sommer anschreiben lassen durfte.
Wozu?, hat Friðrik gefragt und seinen Bruder aus seinen tief liegenden Augen angesehen. Das war in Friðriks Kontor, und er saß an seinem großen, massiven Schreibtisch. Gísli stand auf dem weichen Teppich davor und sah sich einmal mehr gezwungen, seinen Stolz herunterzuschlucken und seinen Bruder um Erlaubnis zu bitten, das teure Stück auf Rechnung entnehmen zu dürfen.
Es gibt nicht für alles einen Grund, teurer Bruder, hat er geantwortet.
Oh doch, gab Friðrik zurück. Die Frage ist nur, ob man Grips genug hat, ihn zu finden, und Mut genug, dazu zu stehen.
Doch Gísli bekam die Jacke, wie er erwartet hatte. Es ist gut, eine edle, sorgfältig gearbeitete Jacke zu besitzen, man fühlt sich besser, hat mehr Selbstachtung. Wie oft, denkt er und zieht in Geirþrúðurs Wohnzimmer die Jacke über, kann man sich ducken, ohne dass man sich dauerhaft verbiegt? Wird es nicht immer schwerer, sich wieder aufzurichten und aufrecht zu stehen?
Ich glaube im Übrigen, dass es nicht wichtig ist, wovon Bücher handeln, sagt er und will die Jacke zuknöpfen, lässt es aber, denn draußen scheint ja die Sonne.
Wie alle Bücher handelt auch dieses davon, was es heißt, ein Mensch zu sein, und wie schwer das ist. Jetzt komm mit mir raus in die Sonne! Wir nehmen ein Bier mit und trinken mit der blinden Kreatur da draußen. Lass uns auf Andrea anstoßen, die Frau, die ans Ende der Welt ging.
XXII
Alle vermissen Andrea; sie ist auf und davon mit einem armen Bauern, der vier Kinder und eine altersschwache Mutter hat, welche kaum mehr als ein Beutel Haut und Knochen ist, und der außerdem einen Hund, ein paar Schafe und ein kleines Haus aus Grassoden am Eismeer besitzt, hinter den Bergen der Welt. Weltende oder Weltanfang. Der Kleinbauer Bjarni nennt es Freiheit. Was soll man sagen? Dahin ist Andrea jedenfalls voller Ungewissheiten gezogen, auf der Flucht vor ihrem alten Leben und auf der Suche nach einem neuen, anderen.
Du kommst sofort zurück, wenn dir danach ist, hat Helga gesagt, sobald du dich nicht wohlfühlst.
Ist gut, hat Andrea eingewilligt, trotzdem wussten sie, dass sie nicht so bald wiederkommen würde, frühestens im Herbst, vielleicht erst viel später, vielleicht nie. Der Junge hat ihr den Ort eingehend beschrieben, auch die vier Kinder, ihre Schutzlosigkeit und ihre Lebensfreude, den Hund und Bjarni, diesen langsamen, aber unerschütterlichen Mann, mit einer feinen Spur von Schmerz im Gesicht, der ebenfalls liest, und dass sein Vater in ein brennendes Haus zurückgelaufen ist, um Bücher aus dem Feuer zu retten. Diese Leute haben Träume, ihr Herz ist kein toter Vogel oder eingesalzener Fisch. Womöglich ist Andrea gerade wegen der Träume mit Bjarni dem Kleinbauern gegangen. Es sagt etwas über den Boden aus, wenn darauf Träume wachsen.
Ich habe lange genug ohne Träume gelebt, hat sie unten am Ufer zu dem Jungen gesagt, ein großer Koffer war schon im Boot verstaut, in aller Eile von Helga, Geirþrúður und dem Jungen mit Kleidern, Stoff, ausländischen Keksen, Rosinen, Feigen, Papier und Büchern vollgestopft, auf Andreas Einwände wurde nicht gehört, sie hatte nichts zu sagen, und Bjarni trat in der Küche unruhig von einem Fuß auf den anderen, er wollte los, wollte vor der Nacht zu Hause sein, aber vielleicht trieb ihn auch noch etwas anderes um, für das er keinen Namen fand, vielleicht Musik, leichter Schwindel, ein flaues Vorgefühl und auch ein bisschen Freude. Es ist keine Kleinigkeit, mit einem wildfremden Menschen nach Hause zu fahren, ein vollständiges anderes Leben, eine Frau, die sich in ein paar Stunden gleich neben ihn legen würde, und dann würde er auf ihre Atemzüge lauschen.
Versprich, dass du mir lange Briefe schreibst, hat Andrea gesagt und den Jungen umklammert, als wäre er etwas Wertvolles, und dann sind sie fortgerudert, Bjarni und Andrea, etwa eine halbe Stunde, bis sie in den Wind kamen, und dann bauschte sich ein
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