Das Herz des Satyrs: Roman (Knaur TB) (German Edition)
Raum verlassen, wann immer ich es wünsche. Und wenn ich das tue, wirst du einen toten Körper am Hals haben.«
»Würdest du mir dieses Rätsel liebenswürdigerweise erklären?«
Sie zuckte mit den Schultern. Es war nur eine leere Drohung gewesen, denn sie konnte ihm den Stein nur dann entwenden, wenn sie sich in einer soliden körperlichen Gestalt befand – entweder in der ihres Wirts oder in ihrer eigenen. Und wenn er sie in ihrer wahren Gestalt als Geistwandlerin zu sehen bekam, wäre das für sie ein großer Schritt in Richtung Sterblichkeit.
Er ließ die Hand sinken, und sie wich hastig zurück. »Lass uns eine Vereinbarung treffen«, schlug er vor. »Du bleibst hier, bis du alle meine Fragen beantwortet hast. Und danach werde ich dir das hier geben.«
Er holte den Opal aus seiner Tasche und zeigte ihn ihr. Sie beäugte den Stein begehrlich. Um ihn zu bekommen, würde sie Bastian beinahe jede Wahrheit erzählen. Aber konnte sie ihm vertrauen?
Bastian sah, wie ihre grünen Augen interessiert aufleuchteten. Ihre Augen waren schön, aber sie hatten die falsche Farbe. Sie war die falsche Frau – oder? Vor fünf Monaten hatte Michaela Rom verlassen und dabei drei andere Opale und alle Farben mit sich genommen. Seitdem war alles um ihn herum trostlos gewesen, eine Existenz in tristen Grautönen und nacktem Schwarz-Weiß.
Doch in dem Augenblick, als er diese Frau im Zimmer unten berührt hatte, waren die Farben wieder zum Leben erwacht. Ihre Haut war von Londoner Blässe, ihre Lippen pfirsichfarben, ihr Haar ein schimmerndes Kastanienbraun, und ihr Kleid hatte Streifen in Lavendel und Immergrün. Je länger sie sich in seiner Gesellschaft befand, umso mehr strahlten die Farben von ihr auf ihre Umgebung ab, selbst wenn er sie gar nicht berührte. Auf dem Weg durch sein Haus hatten sie eine regelrechte Spur hinter sich hergezogen, und jetzt tauchte sie die halbe Bibliothek um sie herum in Farben.
Sie stand hinter einem seiner gepolsterten Lesesessel und beobachtete ihn misstrauisch. Sein Blick glitt zu ihrer Hand, die auf der Lehne des Sessels ruhte, und entdeckte dort den Ring, den sie trug. Er hoffte nur, dass sie Witwe war, denn das Erscheinen von Farben in seiner Welt hatte den inzwischen gewohnten Effekt auf seine Anatomie.
»Dein Vorschlag ist zu unbestimmt. Ich werde dir stattdessen fünf Antworten auf fünf Fragen geben«, verhandelte sie. »Im Austausch dafür will ich den Opal und meine Freiheit.«
»Zehn Fragen«, konterte er.
»In Ordnung.«
Er neigte den Kopf. »Abgemacht.«
»Schwöre bei deinem Gott.«
»Ich schwöre«, erklärte er unbekümmert. Daraufhin setzte er sich in einen der Sessel und bedeutete ihr, in dem daneben Platz zu nehmen, demjenigen, den sie derzeit als Barriere zwischen sich und ihm nutzte. »Komm, lass mich dein Gesicht sehen, damit ich Wahrheit und Lüge besser unterscheiden kann.«
Sie kam dem ohne Widerrede nach, indem sie Platz nahm und die Hände in ihrem Schoß faltete. Er legte den Opal auf den kleinen Tisch zwischen ihren Sesseln. Ihr begieriger Blick glitt zu dem Stein und begegnete dann seinem Blick.
Er lehnte sich zurück und sah sie an. »Was bist du, und woher kennst du Michaela?« Bei dieser Eröffnung sah sie derart entsetzt drein, dass er beinahe lachen musste. Beinahe.
»Das sind zwei Fragen«, wich sie aus.
»Wir werden sie auch als zwei Fragen zählen, sobald ich zwei wahrheitsgemäße Antworten von dir erhalten habe.«
»Also gut. Ich bin eine Geistwandlerin«, gestand sie unumwunden, als hoffte sie, ihn damit zu schockieren. »So wie auch Michaela eine war.«
Angesichts dieser phantastischen Lüge entwich ihm ein kurzes Auflachen. Geistwandlerinnen waren nichts weiter als Märchengestalten. »Ein mythischer Aasfresser? Das glaube ich nicht.«
Sie verschränkte die Arme. »Das ist eine beleidigende Bezeichnung.«
»Dann eher Leichenräuber?«
»Ebenso beleidigend, wie du sehr gut weißt. Und das war deine dritte Frage.«
Ihre Verärgerung wirkte allerdings sehr überzeugend auf ihn. War es möglich, dass sie nicht log? Immerhin konnte seine Familie Nebelnymphen aus dem Nichts heraufbeschwören. War denn im Vergleich dazu die Existenz einer Geistwandlerin wirklich eine so unglaubwürdige Vorstellung? »Geistwandlerinnen werden von Göttern erschaffen«, meinte er sinnend.
»Ist das eine Frage? Oder …«
»Lass es mich anders formulieren. Welche Gottheit hat dich erschaffen? Und ich erwarte eine vollständige Antwort, die mich davon
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