Das Herz des Satyrs: Roman (Knaur TB) (German Edition)
überzeugt, dass der Mythos real ist«, sagte er.
Kurzes Zögern, dann gestand sie ruhig: »Vesta.« Als er sie nur skeptisch ansah, presste sie die Lippen zusammen und beugte sich zu ihm. Sie wollte, dass er ihr glaubte. »Glaubst du, Michaela oder ich haben um dieses Leben gebeten? Mitnichten. Es wurde uns auferlegt, als wir junge Mädchen waren, vor Jahrhunderten in einer längst vergangenen Zeit, als Frauen keine Macht hatten. Du hast über der Frage gebrütet, ob es zwölf Vestalinnen gab, anstelle der sechs, von denen die Philosophen berichten. Nun, ich kann dieses Rätsel für dich lösen, wenn es mir hilft, dich zu überzeugen. Es gab tatsächlich sechs Jungfrauen. Aber es gab auch sechs Begleiterinnen. Wir wurden Seite an Seite ausgebildet, haben gemeinsam gegessen und gemeinsam die Flamme gehütet. Wir alle waren Vesta ergeben. Und als ihr Tempel gewaltsam aufgelöst wurde, verwandelte sie uns alle in Geistwandlerinnen.«
»Und woher wusstest du, dass ich über die Existenz von zwölf Vestalinnen nachdachte?«, fragte er sanft.
Sie zuckte zurück. Sie erkannte ihren Fehler und versuchte, auszuweichen. »Ich …«
Aber er hatte schon die Antwort gehört, die er hören wollte. Vor seinem inneren Auge sah er sich selbst, wie er zu der Stätte von Vestas Tempel geführt wurde, wo er nicht sechs, sondern zwölf Erscheinungen gesehen hatte. Und dann, nur zwei Tage später, war ein zwölfjähriger Junge in seinem Arbeitszelt auf dem Forum gewesen, der an den Fingern Fakten abgezählt hatte: Eins: Aeneas brachte das ewige Feuer aus Troja zum Tempel der Vesta. Zwei: Es brannte dort neunhundert Jahre lang. Drei: Zwölf Vestalinnen hielten die Flamme am Brennen .
»Götter, du hast mich zum Tempel geführt, nicht wahr? Und du bist … Rico .« Er ließ den Blick über sie schweifen, kaum in der Lage, zu glauben, dass diese … Person … dasselbe Lebewesen war wie die Erscheinung des kleinen Mädchens und auch noch der Junge, den er vor fünf Monaten auf dem Forum kennengelernt hatte. Plötzlich wurde eine Frau, die ihn bereits vorher gefesselt hatte, zu dem faszinierendsten Geschöpf, dem er je begegnet war. »Du sagst tatsächlich die Wahrheit. Du bist eine Geistwandlerin, und du hast Rico als Wirt angenommen, um Zugang zu den Ausgrabungen auf dem Forum zu erhalten.«
Zwei rote Flecken erschienen auf ihren blassen Wangen. Sie wirkte zutiefst gekränkt darüber, dass er es herausgefunden hatte, doch alles, was sie antwortete, war ein einfaches: »Ja, nächste Frage.«
Bastian schüttelte langsam den Kopf und versuchte immer noch, die Tatsache zu verdauen, dass diese Frau und Rico ein und dieselbe Person waren. Er hatte mit Rico viele Stunden bis spät in die Nacht gearbeitet. Hatte mit ihm gegessen, mit ihm gescherzt, diskutiert. Der Junge hatte ihn gleichermaßen verärgert und amüsiert. Die echte Leidenschaft für die Ausgrabungen war ihnen gemeinsam gewesen. Wie viel davon war wirklich sie? Wie sah sie in ihrer wahren Gestalt aus? Er hob den Opal auf und betrachtete ihn. Sie richtete ihren Blick darauf. »Warum nimmst du nicht Geistform an, nimmst diesen Opal und fliehst damit?«, fragte er.
»Weil ich ihn in körperloser Form nicht tragen kann. Und das macht sechs Fragen.«
»Ich füge sogleich die siebte hinzu. Bist du eine Frau?«
Sie nickte und fühlte sich angesichts dieser Wendung der Konversation unbehaglich.
»Eine Frau, die offenbar eine schädliche Wirkung auf Personen hat, mit denen sie in Kontakt kommt. Wirst du auch mich töten?«
»Ich habe Rico nicht getötet . Und auch nicht Michaela!«, schimpfte sie, während ihr die Selbstbeherrschung langsam abhandenzukommen schien. »Ich wollte keinen von beiden tot. Ich habe Michaela geliebt , das sagte ich dir schon, weit mehr, als du sie geliebt hast. Und ich mochte Rico. Aber er war tot, als ich ihm begegnete. Beziehungsweise, er war dabei, zu sterben, an einem Rattenbiss. Er war ein Fremder für mich, jemand, dem ich einige Wochen lang Leben über seine natürliche Existenz hinaus verliehen habe. Und Michaela wurde in jener Nacht in Monti ermordet. Ich konnte nichts tun, um den Tod der beiden zu verhindern. Das kann ich nie!«
»Du bist außer dir. Aber das hat zumindest etwas Aufrichtiges an sich.« Er stand auf und ging zu seinem gut bestückten Getränkewagen, und einen Augenblick lang war nur das Klirren von Kristall im Zimmer zu hören.
Sie spähte auf den Inhalt der Flasche, aus der er sich einschenkte. »Und Sie sind unangenehm
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