Das Herz des Südens
keine Vorstellung davon, wie schlimm sich die Lage entwickeln konnte. Sie begriff überhaupt nicht, in welcher Weise der Zusammenbruch ihr Leben beeinflussen konnte.
Unruhig blickte Josie von Bertrand zu Grand-mère. Keiner sagte ein beruhigendes Wort zu ihr, und das Schweigen jagte ihr ebenso viel Angst ein wie die Gesichtsfarbe der beiden. Bertrands Blick war bedeutungsschwer – eine Bedeutung, die sie nicht verstand.
So förmlich, wie er in diesen letzten wunderbaren Wochen nie gewesen war, stand er jetzt auf. »Ich muss nach New Orleans«, sagte er, nahm seinen Hut von dem Beistelltisch, auf den ihn Cleo gelegt hatte, und verbeugte sich.
»Madame«, sagte er. »Mademoiselle.«
»Wie lange wirst du fortbleiben?«, fragte Josie.
Er betrachtete einen Moment lang seinen Hut, bevor er ihr antwortete. »Ich weiß nicht, wann wir uns wiedersehen werden, Josephine.«
Sie begleitete ihn auf die Veranda, hoffte auf einen Augenblick allein mit ihm, auf eine Berührung, eine Geste, aber er drehte sich nicht mehr um, als er an der Treppe angekommen war. Von der Veranda aus sah Josie ihm zu, wie er in den Sattel des großen Hengstes sprang, der im Schatten gegrast hatte. Sie wartete, ob er zurückblicken und winken würde, aber er ritt eilig die Eichenallee hinunter, ohne sich noch einmal umzusehen.
29
Den Rest des Tages lag das Haus in tiefem Schweigen, als wäre wieder ein Familienmitglied gestorben. Cleo schickte Laurie auf die Veranda, damit sie die Fliegen verjagte, die Madame plagten. Madame Emmeline hatte kein Wort gesagt, seitdem Monsieur Chamard das Haus verlassen hatte. Sie saß im Schatten auf der Veranda, starrte hinaus auf die Eichen und den Deich und das Glitzern des Flusses dahinter.
Zum Abendessen gab es kalten Braten und Brot. Immer noch sprach niemand ein Wort. Cleo bediente unauffällig. Sie hatte die Zeitung gelesen, die auf dem Sofa liegen geblieben war, und obwohl sie nicht alles verstand, war ihr doch klar, dass Toulouse hoch verschuldet war. Selbst Josie blickte verängstigt drein.
Hieß das, Remy würde nicht mehr so viel Geld sparen können? Würde er im Hafen von New Orleans überhaupt noch Arbeit finden? Phanor musste das wissen. Wenn er doch nur heimkommen und ihr einen Brief mitbringen würde! An manchen Tagen wurden die Sehnsucht und die Einsamkeit in ihr so stark, dass sie dachte, sie müsste daran zerbrechen.
Als die Sommersonne endlich unterging, rief Madame nach Cleo, sie solle die Öllampe in ihrem Büro anzünden. Das Netzgewebe vor dem Fenster hielt die meisten Mücken und Fliegen ab, und Madame sagte: »Ich brauche Laurie heute Abend nicht mehr, du kannst sie ins Bett schicken.« Cleo brachte noch einen Krug mit kaltem Wasser und ein geschliffenes Glas ins Büro und ließ Madame dann mit ihren Rechnungsbüchern allein.
Im Schlafzimmer fand Cleo Josie, die bei Kerzenlicht in ihr Tagebuch schrieb. Nach dem Nachmittag und Abend in einem schweigenden Haus hätte Cleo sich gern ein bisschen unterhalten, aber Josie blickte nicht einmal von ihrem Buch auf.
Von den Treppenstufen zur hinteren Veranda äugte Cleo in die frühe Dunkelheit und lauschte auf den Schritt des Aufsehers. Seit dem Angriff durch Sams Hund Boots wich sein bösartiger Hund nie mehr von seiner Seite, und Cleo fürchtete den Hund ebenso sehr wie LeBrec. Froh, keinen von beiden zu entdecken, legte sie die dreißig Meter zum Küchenhaus zurück.
Eine einzelne Kerze erhellte das Kämmerchen, in dem Louella und Thibault wohnten. Thibault lag schon selig schlummernd auf seiner Pritsche, während Louella sich in dem rindsledernen Sessel an der Wand ausruhte. »Komm rein, Liebes«, rief sie leise, als Cleo an der Tür erschien.
»Was ist denn da drüben los«, fragte sie, als Cleo sich in dem zweiten Sessel niedergelassen hatte. »Ich hab den ganzen Tag keinen Ton aus dem Haus gehört. Hat Madame wieder Kopfweh?«
Cleo schüttelte den Kopf. »Nein, es gibt schlechte Nachrichten aus New Orleans. Die Banken schließen, und die Leute machen sich Sorgen um ihr Geld.«
»Na, wenigstens eine Sorge, die ich nicht habe. Du auch nicht.«
»Madame macht sich genug Sorgen für uns alle, würde ich sagen.«
»Ich hab noch zwei Zitronen in der Küche. Wir könnten uns eine Limonade machen, wie sie die Weißen immer trinken. Holst du uns kaltes Wasser aus der Zisterne, während ich die Zitronen aufschneide?«
Cleo trat hinaus auf den Hof und atmete in der kühleren Luft tief ein. Sie füllte Louellas Wasserkrug, musste sich
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