Das Herz des Wolfes (German Edition)
Gefühlen und grauenhaften Erinnerungen. Wieder traf er eine seiner jähen Entscheidungen und sagte: »Ich bringe Sie nach Hause.«
Auf ihrem angespannten, verschlossenen Gesicht entfaltete sich die Überraschung wie eine Blütenknospe. »Wollen Sie mich nicht vernehmen?«
»Doch, aber Sie haben einen höllischen Schock erlitten. Alles Nötige können wir bequemer bei Ihnen zu Hause besprechen«, sagte er.
Er legte ihr einen Arm um die Schultern und führte sie zu seinem Wagen, einem neuen Jeep-Cherokee-Modell in Zivil. Ohne jeden Widerspruch lief sie wie ein Roboter neben ihm her. Er öffnete die Türen mit dem Schlüsselanhänger und hielt ihr die Beifahrertür auf. Sobald sie saß, ging er zügig zur Fahrerseite.
Mit einem kurzen Seitenblick vergewisserte er sich, dass sie sich angeschnallt hatte, bevor er den Jeep startete und aus der Parklücke zurücksetzte. Bei jeder Lenkbewegung spürte er, wie tückisch glatt die Fahrbahn geworden war. Der Motor war noch warm, und so drehte er die Heizung für Alice voll auf. Für sich allein hätte er sich die Mühe nicht gemacht. Meistens produzierte er für seine eigenen Bedürfnisse genug Körperwärme.
Seit Riehl seinen neuen Job angenommen hatte, fiel ihm immer wieder auf, wie sehr er sich an das primitive Leben gewöhnt hatte. Mit zwanzig war er als Rekrut zur Armee gegangen und war dort länger geblieben, als die meisten Menschenleben währten. Der Wolf in ihm konnte sich mit seinem Ausscheiden aus der Armee noch immer nicht so richtig anfreunden. Jedes Mal, wenn er sich in beengten Wohnungen wie der des Opfers – wie dem Zuhause von Haley Cannes – aufhielt, überkam ihn das Gefühl, er würde alles umstoßen, wenn er sich zu schnell bewegte.
In den letzten Monaten hatte er seinen Entschluss, die Armee zu verlassen und in die Stadt zu ziehen, sogar ernsthaft in Zweifel gezogen. Er wusste nicht, ob er sich auf Dauer anpassen konnte. Der Wolf war mit dem umherziehenden Leben zufrieden gewesen und hatte in der Armee das Rudelgefühl gefunden, das er brauchte. Es war der Mann in ihm gewesen, der rastlos geworden war und beschlossen hatte, dass es Zeit für eine Veränderung war. Doch die Rastlosigkeit war nicht abgeklungen, nachdem er umgezogen war und den Job gewechselt hatte.
Eigentlich war sie bis genau zu diesem Moment nicht abgeklungen.
Er warf seiner Beifahrerin einen weiteren nachdenklichen Seitenblick zu. In diesem Sturm da draußen ging eine ganz schöne Ladung runter. Weiße Schneeflocken hingen in Alice’ Haaren und schmolzen in der Wärme des Wagens. Die Feuchtigkeit funkelte wie ein Netz aus winzigen Juwelen. Ihr Profil wirkte traurig, sogar hart, ihr fein geschnittener Mund bildete eine gerade Linie ohne jedes Lächeln. Sie trauerte, und er war ein Eselsarsch, weil er nicht aufhören konnte, sie anzustarren und daran zu denken, wie er sie ins Bett kriegen könnte.
Wieder spürte er, dass sich die Achse der Welt verschoben hatte, die tiefe Überzeugung, dass sich der Nordpol bewegt hatte und nichts mehr so sein würde wie vorher.
Er spürte es. Er hatte nur keine Ahnung, was es bedeutete.
Die Strecke bis zu ihrer Wohnung war eigentlich recht kurz, aber wegen des Wetters dauerte die Fahrt um einiges länger. Ein paar Mal sah Alice zu Riehl hinüber, wenn er den Wagen ohne zu fragen in die richtige Richtung lenkte. Sie verschränkte die Hände in ihrem Schoß fest ineinander, sagte aber nichts. Viel Zeit hatte er nicht gehabt, nachdem ihn die Meldung erreicht hatte, aber er hatte noch eine Schnellsuche nach ihrem Namen durchgeführt. Alice Clark, Alter fünfunddreißig. Zur Hölle, er war länger in der Armee gewesen, als sie am Leben war, sogar mehr als doppelt so lange. Den Akten der Kraftfahrzeugbehörde zufolge besaß sie einen Prius. Er frage sich, ob sie eine Wochenendfahrerin war, wie so viele der Stadtbewohner, die ein Auto besaßen.
Ihre Adresse entpuppte sich als Wohnung mit Garten in einem Sandsteinhaus in der Nähe des Prospect Parks. Riehl parkte den Wagen und folgte ihr die flachen, eisglatten Stufen hinunter zur Eingangstür. Das verschnörkelte schmiedeeiserne Schutzgitter vor dem Fenster war von einer Eisschicht überzogen. Als sie die Wohnung betraten, schlug ihm Wärme entgegen. Während Alice noch die Eingangstür schloss und verriegelte, zog er schon seine Jacke aus.
Mit ihren hübschen nussbraunen Augen sah sie zu ihm auf, um dann nervös den Blick abzuwenden, während sie die Knöpfe ihres Wollmantels öffnete.
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