Das Herz ihrer Tochter
Obdachloser ist
oder die Königin von England oder Jesus Christus - es zählt allein, dass wir
den Fall gewinnen, damit Shay so sterben kann, wie er möchte. Und deshalb
treten Sie in den verdammten Zeugenstand und schwören auf die Bibel - die ja
womöglich für Sie keine Rolle mehr spielt, jetzt, wo Sie Jesus in der
Todeszelle gefunden haben. Und wenn Sie Shay die Sache vermasseln, weil Sie
wirres Zeug reden, wenn ich Sie befrage, dann kriegen Sie gewaltigen Ärger mit
mir.« Als Maggie endete, war sie rot im Gesicht und atmete schwer. »Dieses alte
Evangelium«, sagte sie. »Wortwörtlich?« Ich nickte.
»Woher wissen Sie von
dem Evangelium?“
»Von Ihrem Vater«,
sagte ich.
Maggies Brauen schnellten hoch. »Ich
schicke nicht einen Priester und einen Rabbiner in den Zeugenstand. Der Richter würde die ganze Zeit
nur auf die Pointe warten.«
Ich sah Maggie an.
»Ich hab eine Idee.«
MAGGIE
Im Besprechungsraum für Anwälte und
Mandaten außerhalb von Block I kletterte Shay auf den Stuhl und fing an, mit
Fliegen zu reden. »Mehr nach links«, sagte er, den Hals zur Lüftungsöffnung
gereckt. »Na los. Ihr schafft das.«
Ich blickte kurz von meinen Notizen auf.
»Sind das Ihre Haustiere?«
»Nein«, sagte Shay und stieg wieder vom
Stuhl herunter. Seine Haare waren verfilzt, aber nur auf der linken Seite,
wodurch er bestenfalls geistesabwesend und schlimmstenfalls geisteskrank
wirkte. Ich überlegte, wie ich ihn dazu bringen könnte, sich zu kämmen, ehe wir
morgen vor den Richter traten.
Die Fliegen kreisten. »Ich hab zu Hause
ein Kaninchen«, sagte ich.
»Letzte Woche, ehe ich in Block I verlegt
wurde, hatte ich Haustiere«, sagte Shay, schüttelte dann den Kopf. »Das war
nicht letzte Woche. Es war gestern. Ich kann mich nicht erinnern.«
»Macht nichts -«
»Wie heißt es?«
»Bitte?«
»Das Kaninchen.«
»Oliver«, sagte ich und zog etwas aus
meiner Tasche. »Ich habe Ihnen ein Geschenk mitgebracht.«
Er lächelte mich an, sein Blick stechend
und plötzlich konzentriert. »Ich hoffe, es ist ein Schlüssel.«
»Nicht ganz.« Ich reichte ihm einen
Snack-Pack-Buttertoffee-Pudding. »Ich hab mir gedacht, die richtig leckeren
Sachen bekommen Sie hier im Gefängnis bestimmt nicht.«
Er zog den Foliendeckel herunter, leckte
ihn ab und faltete ihn akkurat zusammen, ehe er ihn in seine Brusttasche
steckte. »Ist da echte Butter drin?«
Ich schmunzelte. »Bezweifle ich
ernsthaft.«
»Schade.«
Ich sah zu, wie er den ersten Löffel aß.
»Morgen ist der große Tag«, sagte ich.
Nach dem Gespräch mit Father Michael
hatte ich den Zeugen kontaktiert, den er empfohlen hatte - einen Theologen
namens Ian Fletcher, an den ich mich vage als Moderator einer Talkshow
erinnerte, in der er regelmäßig Behauptungen von Leuten als falsch entlarvte,
die das Bild der Jungfrau Maria in einer verkohlten Toastscheibe erkannt haben
wollten oder dergleichen. Zunächst hatte ich große Bedenken, ihn als Zeugen zu
benennen - doch der Mann hatte am Princeton Theological Seminary seinen Doktor
gemacht, und es konnte sich durchaus lohnen, einen ehemaligen Atheisten für
uns aussagen zu lassen. Wenn Fletcher davon hatte überzeugt werden können,
dass es einen Gott gab - sei es Jesus, Allah, Jahwe, Shay oder keiner der
Vorgenannten -, dann ganz bestimmt auch jeder von uns.
Shay aß seinen Pudding auf und gab mir
den leeren Becher und den Löffel zurück. »Bitte auch den Foliendeckel«, sagte
ich. Nicht dass Shay sich noch aus dem Aluminium eine Klinge bastelte und
jemand anderen oder sich selbst damit verletzte. Er fischte die Folie
widerspruchslos aus der Brusttasche und gab sie mir. »Sie wissen doch, was
morgen passiert, nicht?«
»Sie etwa nicht?«
»Doch. In dem Prozess«, begann ich,
»müssen Sie einfach geduldig dasitzen und zuhören. Auf vieles, was Sie hören,
werden Sie sich vermutlich keinen Reim machen können.«
Er blickte auf. »Sind Sie nervös?«
Zugegeben, ich war nervös - und nicht
bloß weil es um einen publicityträchtigen Todesstrafenfall ging, der womöglich
ein Schlupfloch in der Verfassung entdeckt hatte. Ich lebte in einem Land, in
dem sich 85 Prozent der Menschen als Christen bezeichneten und gut die Hälfte
regelmäßig irgendeine Kirche besuchte - für den Durchschnittsamerikaner ging es
bei Religion nicht um das Individuum; es ging um die Gemeinschaft der
Gläubigen, und ich war im Begriff, das Ganze gegen den Strich zu bürsten.
»Shay«, sagte ich. »Ihnen ist doch klar, dass
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