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Das Herz ihrer Tochter

Das Herz ihrer Tochter

Titel: Das Herz ihrer Tochter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jodi Picoult
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wir auch verlieren können.«
    Shay nickte desinteressiert. »Wo ist
sie?«
    »Wer?«
    »Die Kleine. Die das Herz braucht.«
    »Sie ist im Krankenhaus.«
    »Dann müssen wir uns beeilen«, sagte er.
    Ich atmete langsam aus. »Stimmt. Ich geh
dann mal besser und mach mich startklar.«
    Ich stand auf, signalisierte dem
Aufseher, dass wir fertig waren, und als ich den Besprechungsraum verlassen
wollte, rief Shay mir zu: »Vergessen Sie nicht, sich zu entschuldigen«, sagte
er.
    »Bei wem?«
    Doch Shay war schon wieder auf den Stuhl
gestiegen und konzentrierte sich auf etwas anderes. Und ich sah mit eigenen
Augen, wie sieben Fliegen rasch nacheinander auf seiner ausgestreckten Hand
landeten.
     
    Als ich fünf war, wünschte ich mir nichts
sehnsüchtiger als einen Weihnachtsbaum. Alle meine Freundinnen hatten einen,
und die Menora, die wir abends anzündeten, war in meinen Augen nichts dagegen.
Mein Vater verwies darauf, dass wir dafür acht Geschenke bekämen, doch meine
Freundinnen bekamen noch mehr, wenn man alles zusammenzählte, was bei ihnen
unter dem Baum lag. Einmal, an einem kalten Dezembernachmittag, sagte meine Mutter
zu meinem Vater, sie würde mit mir ins Kino gehen, doch statt dessen fuhren wir
ins Einkaufszentrum. Wir stellten uns in die Warteschlange zu anderen kleinen
Mädchen, die Schleifen im Haar hatten und schicke Kleidchen mit Spitze trugen,
bis ich schließlich auf dem Schoß des Weihnachtsmannes sitzen und ihm sagen
konnte, dass ich mir ein Plüschpony wünschte. Anschließend bekam ich eine
Zuckerstange, und wir gingen in ein Kaufhaus, wo fünfzehn Weihnachtsbäume aufgestellt
waren - weiße mit Glaskugeln, welche mit roten Perlen und Zierschleifen, einer,
auf dessen Spitze Tinker Bell saß und der rundherum mit anderen Disneyfiguren
geschmückt war. »Komm«, sagte meine Mutter, und dann legten wir uns mitten in
dem Kaufhaus einfach so zwischen die Bäume und schauten in die blinkenden
Lichter hinauf. So etwas Schönes hatte ich noch nie gesehen. »Ich verrat Daddy
auch nichts«, versprach ich, aber sie sagte, er dürfe das ruhig wissen. Es ging
hier ja nicht um eine andere Religion, erklärte meine Mutter. Das alles war bloß
das Drumherum. Man konnte sich an der Verpackung erfreuen, ohne je das
herauszunehmen, was sie umhüllte.
    Sobald ich nach meinem Treffen mit Shay
in meinem Auto saß, rief ich meine Mutter im ChutZpah an. »Hi«, sagte ich, als
sie sich meldete. »Was machst du gerade?«
    Ein kurzes Zögern. »Maggie? Was ist los?«
    »Nichts. Ich hatte bloß Lust, dich
anzurufen.«
    »Ist was passiert? Bist du krank?«
    »Kann ich nicht mal meine Mutter anrufen,
bloß weil ich Lust dazu habe?«
    »Kannst du schon«, sagte sie, »tust du nur nie.«
    Tja. Die Wahrheit läßt sich nicht
bestreiten. Ich holte tief Luft und ließ die Deckung fallen: »Weißt du noch,
wie du mal mit mir zum Weihnachtsmann ins Einkaufszentrum gefahren bist?«
    »Bitte sag jetzt nicht, du willst
konvertieren. Das würde dein Vater nicht überleben.«
    »Ich will nicht konvertieren«, sagte ich,
und meine Mutter seufzte erleichtert. »Ich hab mich bloß gerade dran erinnert,
mehr nicht.«
    »Und du rufst an, um mir das zu sagen?«
    »Nein«, sagte ich. »Ich rufe an, um mich
zu entschuldigen.«
    »Wofür?« Meine Mutter lachte. »Du hast
doch nichts getan.«
    In dem Augenblick sah ich uns wieder in
dem Geschäft auf dem Boden liegen und hinauf in den Lichterglanz der Bäume
schauen, als plötzlich ein Mann vom Sicherheitsdienst vor uns aufragte. Geben Sie ihr doch noch ein paar Minuten, hatte meine Mutter ihn angefleht. Und dann sah ich plötzlich June
Nealons Gesicht vor mir. Vielleicht war das ja die Aufgabe einer Mutter: für
ihr Kind Zeit rauszuschlagen, um jeden Preis. Selbst wenn sie dafür etwas tun
musste, was sie lieber nicht täte; selbst wenn sie dafür zu Boden gehen musste.
    »Ja«, antwortete ich. »Ich weiß.«
     
    »Der Wunsch nach Religionsfreiheit ist
nichts Neues«, sagte ich bei meinem Eröffnungsplädoyer in Shay Bournes Prozess
zu Richter Haig. »Einer der bekanntesten Fälle liegt fast vierhundert Jahre
zurück, und er fand nicht in unserem Land statt - weil es unser Land noch gar
nicht gab. Eine Gruppe von Menschen, die es wagten, religiöse Überzeugungen zu
vertreten, die sich vom Status quo unterschieden, sollte gezwungen werden, sich
der englischen Staatskirche zu unterwerfen - und beschloss statt dessen, zu
einem unbekannten Kontinent aufzubrechen. Doch den Puritanern

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