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Das Herz ihrer Tochter

Das Herz ihrer Tochter

Titel: Das Herz ihrer Tochter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jodi Picoult
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ab.
    Im Spiegel sah ich, wie Shay Batman aus
dem Taschentuch nahm und in der Hand hielt. Er streichelte den Kopf mit einem
Finger, bedeckte den Körper behutsam mit der anderen Hand, als hätte er einen
Stern gefangen. Ich hielt den Atem an, wartete auf ein Zucken oder Flattern
oder ein leises Piepsen, doch nach einigen Augenblicken wickelte Shay den Vogel
einfach wieder ein.
    »He!« Auch Calloway hatte zugesehen. »Du
hast ja gar nichts gemacht!«
    »Lass mich in Frieden«, wiederholte Shay.
Die Luft war bitter wie Mandeln geworden; ich konnte sie kaum einatmen. Ich
sah, wie er den toten Vogel zurückwarf - und mit ihm all unsere Hoffnungen.
     
    MAGGIE
     
    Als Gordon Greenleaf
aufstand, knackten seine Knie. »Sie haben als Wissenschaftler auch
vergleichende komparative Religionsstudien betrieben?«, fragte er Fletcher.
»Ja.«
    »Vertreten die verschiedenen Religionen
auch unterschiedliche Standpunkte in Sachen Organspende?«
    »Ja«, sagte Fletcher. »Für Katholiken
sollten Organe erst nach Eintritt des Todes gespendet werden - um jedes Risiko
auszuschließen, dass ein lebender Spender bei der Organentnahme stirbt. Sie
befürworten die Organspende voll und ganz, ebenso wie Juden und Muslime. Für
Buddhisten und Hindus ist die Organspende eine Gewissensentscheidung des
Einzelnen, ein Akt der Barmherzigkeit, die bei ihnen einen hohen Stellenwert
hat.«
    »Betrachtet eine dieser Religionen die
Organspende als Voraussetzung für die Erlösung?“
    »Nein«, sagte Fletcher.
    »Gibt es heute
praktizierende gnostische Christen?“
    »Nein«, sagte
Fletcher. »Die Religion ist ausgestorben.“
    »Wie das?«
    »Auf einem Glaubenssystem, das besagt,
man solle nicht auf Geistliche hören und jede Doktrin hinterfragen, läßt sich
schwer eine Gemeinschaft aufbauen. Die orthodoxen Christen dagegen legten genau
fest, wie man ein festes Mitglied der Gruppe wird - das Glaubensbekenntnis
ablegen, die Taufe akzeptieren, zum Gottesdienst gehen, den Priestern
gehorchen. Außerdem war ihr Jesus jemand, mit dem sich jeder identifizieren
konnte - er war geboren worden, hatte eine überfürsorgliche Mutter, hatte gelitten
und war gestorben. Er war erheblich leichter zu verkaufen als der gnostische
Jesus - der nicht einmal menschlich war. Die anderen Gründe für den Niedergang
der Gnostiker«, sagte Fletcher, »waren politischer Natur. Im Jahre 312 nach Christus sah der
römische Kaiser Konstantin ein Kreuz am Himmel und bekehrte sich daraufhin zum
Christentum. Die katholische Kirche wurde fest im Heiligen Römischen Reich
verankert... und schon allein der Besitz gnostischer Schriften wurde mit dem
Tode bestraft.«
    »Dann könnte man also sagen, dass das
gnostische Christentum fünf zehnhundert Jahre lang nicht praktiziert wurde?«,
sagte Greenleaf.
    »Offiziell nicht. Gewisse Elemente des
gnostischen Glaubens haben allerdings in anderen Religionen überlebt. Zum
Beispiel erkannten Gnostiker den Unterschied zwischen der Wirklichkeit Gottes,
die sich mit Sprache unmöglich beschreiben ließ, und dem Bild Gottes, wie wir
es kannten. Das hört sich sehr nach jüdischem Mystizismus an, wo Gott als
Energieströme beschneiden wird, männliche und weibliche, die in einer
göttlichen Quelle zusammenfließen, oder Gott als die Quelle aller Klänge zusammen.
Und buddhistische Erleuchtung hat sehr viel Ähnlichkeit mit der gnostischen
Vorstellung, dass wir in einem Land des Vergessens leben, aber spirituell
genau hier, weiterhin als Teil dieser Welt, erweckt werden können.«
    »Aber Shay Bourne kann kein Anhänger
einer Religion sein, die nicht mehr existiert, ist das richtig?«
    Er zögerte. »So wie ich das verstehe, ist
die Herzspende für Shay Bourne der Versuch zu erfahren, wer er ist, wer er sein
will, wie er mit anderen verbunden ist. Und in diesem äußerst elementaren Sinn
würden die Gnostiker beipflichten, dass er den Teil von sich gefunden hat, der
dem Göttlichen am nächsten kommt.« Fletcher blickte auf. »Ein gnostischer
Christ würde sagen, dass uns ein zum Tode Verurteilter ähnlicher ist als unähnlich.
Und dass er - wie Mr Bourne offenbar zeigen möchte - der Welt noch immer etwas
zu bieten hat.«
    »Tja. Wie auch immer.« Greenleaf hob eine
Augenbraue. »Haben Sie überhaupt je mit Shay Bourne gesprochen?«
    »Nein«, erwiderte Fletcher.
    »Dann könnte er ebenso gut gar keine
religiösen Überzeugungen haben. Dann könnte das Ganze doch ein raffinierter
Plan sein, um seine Hinrichtung hinauszuzögern, nicht wahr?«
    »Ich

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