Das Herz ihrer Tochter
um
sich über Fletcher auf den neuesten Stand zu bringen. Der Richter betrachtete
ihn als Kuriosität, und ich - na ja, ich betete inständig, dass sich meine
Strategie nicht in Luft auflösen würde.
»Ms Bloom, ehe wir anfangen«, sagte der
Richter, »habe ich ein paar Fragen an Dr. Fletcher.« Er nickte. »Gern, Euer
Ehren.«
»Wie will ein Mann, der vor zehn Jahren
ein erklärter Atheist war, ein Gericht davon überzeugen, dass er jetzt ein
Experte für Religion ist?«
»Euer Ehren«, warf ich ein. »Das wird
deutlich, wenn ich Dr. Fletchers Qualifikationen -«
»Die Frage ging nicht an Sie, Ms Bloom«,
belehrte mich der Richter, als Ian Fletcher auch schon unbeeindruckt
antwortete: »Euer Ehren, Sie kennen doch die Redensart, bekehrte Sünder sind
die besten Heiligen.« Er grinste, ein langsames und träges Lächeln, das mich an
eine Katze in der Sonne erinnerte. »Ich denke, Gott zu finden ist, als würde
man einen Geist sehen - man kann skeptisch sein, bis man plötzlich mit dem
konfrontiert wird, was man für nicht existent erklärt hatte.«
»Dann sind Sie also jetzt ein religiöser
Mensch?«, fragte der Richter.
»Ich bin ein spiritueller Mensch«,
korrigierte Fletcher. »Und ich glaube tatsächlich, dass da ein Unterschied
besteht. Aber mit spirituell sein allein kann man nicht die Miete bezahlen, deshalb
habe ich einen Princeton- und einen Harvardabschluss gemacht, drei Sachbücher geschrieben,
die es auf die Bestsellerliste der New
York Times gebracht haben,
zweiundvierzig Artikel über die Ursprünge der Weltreligionen veröffentlicht
und sitze in sechs religionsübergreifenden Gremien, von denen eines die
Regierung berät.«
Der Richter nickte und machte sich
Notizen, während Greenleaf noch die Liste mit Fletchers Qualifikationen
studierte. »Ich möchte gleich den Punkt aufgreifen, den Richter Haig angesprochen
hat«, begann ich mit der Vernehmung meines Zeugen. »Es ist ziemlich
ungewöhnlich, dass ein Atheist sich plötzlich für Religion erwärmt. Sind Sie
eines Morgens aufgewacht und haben Jesus gefunden?«
»Nein, es ist ja nicht so, dass man eines
Tages einfach über ihn stolpert. Mein Interesse gründet eher auf einer
historischen Sichtweise. Die Menschen heutzutage tun so, als würde der Glaube
aus einem Vakuum erwachsen. Wenn man Religionen analysiert und sich anschaut,
was politisch und wirtschaftlich und gesellschaftlich zum Zeitpunkt ihrer
Entstehung los war, dann verändert das die Denkweise.«
»Dr. Fletcher, muss jemand einer Gruppe
angehören, um einer Religion anzugehören?«
»Religion läßt sich durchaus
individualisieren - das ist in der Vergangenheit schon vorgekommen. 1945 wurde in der Nähe
eines ägyptischen Dorfes namens Nag Hammadi eine Entdeckung gemacht: rund
fünfzig Texte, die als Evangelien bezeichnet wurden - und die nicht Teil der
Bibel waren. Einige davon enthielten Worte, die jedem vertraut sein müßten, der
zur Sonntagsschule gegangen ist... andere waren, offen gestanden, geradezu
bizarr. Sie wurden mit wissenschaftlichen Methoden auf das zweite Jahrhundert
datiert, womit sie knapp dreißig bis achtzig Jahre jünger sind als die
Evangelien im Neuen Testament. Und sie wurden einer Gruppe von Menschen
zugeordnet, die als gnostische Christen bezeichnet werden - einer
Splittergruppe des orthodoxen Christentums, nach deren Überzeugung wahre
religiöse Erleuchtung gleichbedeutend war mit einer ganz persönlichen
individuellen Suche nach Selbsterkenntnis.«
»Moment bitte«, sagte ich. »Dann gab es
nach Jesu Tod mehr als eine Sorte Christen?«
»Oh, es gab Dutzende.«
»Und jede hatte ihre eigene Bibel?«
»Sie hatten eigene Evangelien«, präzisierte
Fletcher. »Das Neue Testament mit den Evangelien Matthäus, Markus, Lukas und
Johannes wurde von der Orthodoxie anerkannt. Die gnostischen Christen
bevorzugten Schriften wie das Thomasevangelium, das Evangelium der Wahrheit
und das Evangelium der Maria Magdalena.«
»Erzählen diese Evangelien auch von
Jesus?«
»Ja, nur der Jesus, den sie beschreiben,
ist nicht der, den man aus der Bibel kennt. Er ist ganz anders als die
Menschen, die zu erretten er gekommen ist. Das Thomasevangelium - mein persönlicher
Liebling unter den Nag-Hammadi-Schriften - besagt, dass Jesus ein Lenker ist,
der uns hilft herauszufinden, was wir mit Gott gemein haben. Als gnostischer
Christ ging man somit davon aus, dass der Weg zur Erlösung für jeden anders
aussieht.«
»Zum Beispiel indem man sein
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