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Das Herz ihrer Tochter

Das Herz ihrer Tochter

Titel: Das Herz ihrer Tochter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jodi Picoult
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Angstattacken. Einmal bin ich
dabei in eine Kirche gestolpert und hab angefangen zu beten. Je öfter ich das
tat, desto seltener wurden die Attacken.« Ich preßte die Hände zwischen den
Knien ineinander. »Ich dachte, Gott wollte mir damit ein Zeichen geben.«
    Noch immer mit dem Rücken zu mir
schnaubte Shay.
    »Ich glaube noch immer, dass es ein
Zeichen Gottes war, weil es mich zurück in Ihr Leben gebracht hat.«
    Shay rollte sich auf den Rücken und legte
einen Arm über die Augen. »Machen Sie sich nichts vor«, sagte er. »Es hat Sie
zurück in meinen Tod gebracht.«
     
    Ian Fletcher stand an einem Urinal, als
ich in die Herrentoilette gestürzt kam. Ich hatte gehofft, sie wäre leer. Durch
Shays Worte - die nackte Wahrheit - war mir jählings speiübel geworden, und
ich war ohne Erklärung davongeeilt. Ich hastete in eine Kabine, fiel auf die
Knie und übergab mich heftig.
    So gern ich mir etwas einreden wollte -
so gern ich glauben wollte, dass ich Buße für meine Sünden in der Vergangenheit
tat-, Tatsache blieb, dass ich zum zweiten Mal in meinem Leben am Tod von Shay
Bourne beteiligt sein würde.
    Fletcher öffnete die Tür der Kabine und
legte mir eine Hand auf die Schulter. »Father Michael? Alles in Ordnung?«
    Ich wischte mir den Mund ab und stand auf.
»Mir geht's gut«, sagte ich, dann schüttelte ich den Kopf. »Nein, ehrlich
gesagt, geht's mir furchtbar.«
    Ich schlich zum Waschbecken, drehte den
Hahn auf und spritzte mir Wasser ins Gesicht, während Fletcher mich beobachtete.
»Möchten Sie sich vielleicht irgendwo hinsetzen oder so?«, fragte er.
    Ich trocknete mir das Gesicht mit einem
Papierhandtuch ab, das er mir reichte. Und auf einmal hatte ich den dringenden
Wunsch, mir die Last von der Seele zu reden. Ein Mann wie Ian Fletcher, der
zweitausend Jahre alte Geheimnisse enträtselt hatte, musste doch wohl in der
Lage sein, ein Geheimnis von mir zu bewahren. »Ich hab bei seinem Prozess auf
der Geschworenenbank gesessen«, murmelte ich in das Papier hinein.
    »Bitte?«
    Ich blickte Fletcher an. »Ich war einer
von den Geschworenen, die Shay Bourne zum Tode verurteilt haben. Bevor ich
Priester wurde.«
    Fletcher stieß einen
langen, leisen Pfiff aus. »Weiß er das?“
    »Ich habe es ihm vor
ein paar Tagen erzählt.“
    »Und seine Anwältin?«
    Ich schüttelte den Kopf. »Ich werde den
Gedanken nicht los, dass Judas sich so gefühlt haben muss, nachdem er Jesus
verraten hat.«
    Fletchers Mundwinkel hoben sich. »Es ist
übrigens in den letzten Jahren ein weiteres gnostisches Evangelium aufgetaucht
- das Judasevangelium -, und da steht nur ganz wenig über Verrat drin. Dieses
Evangelium stellt Judas eigentlich als Jesu Vertrauten dar - als den Einzigen,
dem er zutraute zu tun, was getan werden musste.«
    »Selbst wenn es Hilfe beim Suizid war«,
sagte ich. »Ich bin sicher, er hat sich danach beschissen gefühlt. Ich meine,
schließlich hat er sich umgebracht.«
    »Na ja«, sagte Fletcher, »da ist was
dran.«
    »Was würden Sie an meiner Stelle tun?«,
fragte ich. »Würden Sie Shay weiterhin helfen, sein Herz zu spenden?«
    »Ich schätze, das kommt drauf an, warum
Sie ihm helfen«, sagte Fletcher langsam. »Wollen Sie ihn retten? Oder wollen
Sie sich einfach selbst retten?« Er schüttelte den Kopf. »Wenn wir auf solche
Fragen die Antworten wüßten, brauchten wir keine Religion. Viel Glück, Father
Michael.«
    Ich ging zurück in die Kabine, klappte
den Klodeckel runter und setzte mich darauf. Ich zog meinen Rosenkranz aus der
Jackentasche und flüsterte die vertrauten Worte der Gebete, süß im Mund wie
Bonbons. Gottes Gnade zu finden war etwas anderes, als einen verlorenen
Schlüssel zu finden - es war eher ein Gefühl; wie wenn die Sonne morgens durch
einen zugezogenen Himmel bricht, eine weiche Matratze unter deinem Gewicht
nachgibt. Und natürlich konntest du Gottes Gnade erst finden, wenn du zugabst,
dass du die Orientierung verloren hattest.
    Die Wahrscheinlichkeit, Gottes Gnade auf
der Herrentoilette des Bundesgerichts zu finden, war vielleicht nicht besonders
groß, aber das hieß nicht, dass es unmöglich war.
    Gottes Gnade finden.
    Vielleicht durch einen Akt der Gnade an
anderen?
    Wenn Shay bereit war, sein Herz zu
spenden, dann konnte ich zumindest dafür sorgen, dass er im Herzen eines ihm
nahestehenden Menschen in Erinnerung bleiben würde, eines Menschen, der ihn -
im Unterschied zu mir - nie verurteilt hatte.
    Und da beschloss ich, nach Shays
Schwester zu

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