Das Herz ihrer Tochter
Herz
spendet...«
»Genau«, sagte Fletcher.
»Donnerwetter«, sagte ich und stellte
mich dumm. »Wieso wird so etwas nicht in der Sonntagsschule unterrichtet?«
»Weil sich die orthodoxe christliche
Kirche durch die Gnostiker bedroht fühlte. Sie stufte deren Evangelien als
häretisch ein, und die Nag-Hammadi-Schriften wurden zweitausend Jahre lang
versteckt.«
»Father Michael hat gesagt, Shay Bourne
habe eine Passage aus dem Thomasevangelium paraphrasiert. Haben Sie eine Vermutung,
wo er auf den Text gestoßen sein könnte?«
»Vielleicht hat er mein Buch gelesen«,
sagte Fletcher mit einem breiten Lächeln, was Gelächter unter den Zuschauern
auslöste.
»Dr. Fletcher, halten Sie eine Religion
mit nur einem Gläubigen noch für existent?«
»Ein einzelner Mensch kann eine Religion
haben«, sagte er. »Er kann keine religiöse Institution haben.
Aber ich habe den Eindruck, dass Shay Bourne in einer ähnlichen Tradition steht
wie die gnostischen Christen vor beinahe zweitausend Jahren. Er ist nicht der
Erste, der sagt, er kann seinen Glauben nicht benennen. Er ist nicht der Erste,
der einen anderen Weg zur Erlösung findet, als die meisten beschreiten. Und er
ist weiß Gott nicht der Erste, der dem Körper mißtraut - der ihn sozusagen
hergeben will als ein Mittel, um in sich selbst Göttlichkeit zu finden. Und nur
weil er kein Kirchen- oder Synagogendach über dem Kopf hat, sind seine
religiösen Überzeugungen nicht weniger wert.«
Ich strahlte ihn an. Fletcher konnte
interessant erzählen, und er hörte sich nicht an wie ein esoterischer Spinner.
Das dachte ich zumindest, bis ich hörte, wie Richter Haig schwer ausatmete und
die Verhandlung auf den nächsten Morgen vertagte.
LUCIUS
Ich malte gerade, als Shay von seinem
ersten Prozesstag zurückkam, gebückt und in sich gekehrt, wie die meisten von
uns, wenn sie vor Gericht hatten erscheinen müssen. Ich blickte auf, als Shay
an meiner Zelle vorbeigeführt wurde, aber ich sprach ihn nicht an. Es war
besser, ihn in Ruhe zu lassen, bis er von sich aus auf uns zukam.
Keine zwanzig Minuten später durchdrang
ein tiefer Klagelaut unseren Block. Zuerst dachte ich, Shay würde sich die
Anspannung des Tages von der Seele heulen, aber dann merkte ich, dass das
Geräusch aus Calloway Reece' Zelle kam. »Komm schon«, stöhnte er. Er fing an,
mit den Fäusten gegen die Tür seiner Zelle zu schlagen. »Bourne«, rief er.
»Bourne, ich brauch deine Hilfe.«
»Lass mich in Frieden«, sagte Shay.
»Der Vogel, Mann. Ich krieg ihn nicht
mehr wach.«
Dass Batman, der ausschließlich mit
Kartoffelbrei, Toastkrümeln und Haferflocken gefüttert wurde, die ganzen
Wochen überhaupt überlebt hatte, war an sich schon ein Wunder, mal abgesehen
davon, dass er dem Tod bereits einmal von der Schippe gesprungen war.
»Mach Mund-zu-Mund-Beatmung«, schlug Joey
Kunz vor.
»Das geht nicht bei Vögeln«, blaffte
Calloway. »Die haben Schnäbel.«
Ich legte den selbst gebastelten Pinsel
aus fest zusammengerolltem Klopapier beiseite und hielt meine Spiegelklinge so
durch das Gitter in meiner Tür, dass ich Calloways Zelle sehen konnte. Der
Vogel, der auf Calloways riesiger Hand lag, rührte sich nicht.
»Shay«, flehte er, »bitte.«
Aus Shays Zelle kam keine Antwort.
»Schaff ihn rüber zu mir«, sagte ich und ging mit meiner Angel in die Hocke.
Ich hatte Sorge, der Vogel könnte inzwischen zu groß sein, um durch den
schmalen Spalt unter der Tür durchzupassen, doch Calloway packte ihn in ein
Taschentuch ein, band es oben zu und warf das Federgewicht im weiten Bogen über
den Laufgang. Ich angelte den Vogel mit meiner Schnur und zog ihn vorsichtig
rein.
Ich konnte nicht widerstehen, einen Blick
in das Bündel zu werfen. Batmans Augenlid war lila und faltig, seine Schwanzfedern
gespreizt wie ein Fächer. Die winzigen Krallen waren nadelspitz. Als ich sie
berührte, zuckte der Vogel nicht einmal. Ich legte einen Finger unter den
Flügel - hatten Vögel das Herz an der gleichen Stelle wie wir? - und spürte
nichts.
»Shay«, sagte ich leise. »Ich weiß, du
bist müde. Und ich weiß, du hast selbst genug Probleme. Aber bitte. Wirf bloß
einen Blick drauf.«
Fünf volle Minuten verstrichen, dann gab
ich es schließlich auf. Ich packte den Vogel wieder ein, band ihn an das Ende
meiner Angelschnur und schob ihn raus auf den Laufgang, damit Calloway ihn
zurückholte. Doch ehe seine Schnur sich bei meiner einhaken konnte, kam eine
andere angesaust, und Shay fing den Vogel
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