Das Herz ihrer Tochter
schüttelte den Kopf. »Wir
hielten das momentan für wenig ratsam.«
»Er könnte es von jemand anderem
erfahren.«
»Das stimmt«, sagte Coyne. »Gegen
Gerüchte bin ich machtlos.«
Ich dachte daran, wie die Medien Lucius'
Heilung bejubelt hatten - würde die öffentliche Meinung jetzt noch deutlicher
gegen Shay umschlagen? Wenn er nicht der Messias war, dann war er
logischerweise nur noch ein Mörder. Ich blickte den Direktor an. »Sie haben
mich also hergebeten, damit ich ihm die schlechte Nachricht überbringe.«
»Das ist Ihre Entscheidung, Ms Bloom. Ich
habe Sie hergebeten, um Ihnen das hier zu geben.« Er nahm einen Briefumschlag
aus der Schreibtischschublade. »Der lag unter Lucius' persönlichen Sachen.«
Der Briefumschlag war an Father Michael
und mich adressiert, mit zittriger dünner Handschrift. »Was ist da drin?«
»Ich hab ihn nicht geöffnet«, sagte der
Direktor.
Ich zog die eingesteckte Lasche heraus
und griff in den Umschlag. Zuerst dachte ich, es wäre ein Zeitschriftenfoto
von einem Gemälde - so naturgetreu sah es aus. Doch bei genauerem Hinsehen
erkannte ich, dass es ein Stück Pappe war, das nicht mit Ölfarbe, sondern
anscheinend mit Aquarellfarbe und Stiften bemalt worden war.
Es war eine Kopie von Raffaels Verklärung Christi, was
ich nur deshalb wusste, weil ich mal ein Seminar in Kunstgeschichte belegt
hatte, wegen des jungen Dozenten, in den ich verknallt war.
Die Verklärung Christi galt
als Raffaels letztes Gemälde. Da er während der Arbeit an dem Gemälde verstarb,
wurde es von einem seiner Schüler vollendet. Oben im Bild ist der weiß
gewandete Jesus dargestellt, wie er flankiert von Moses und Elias über dem Berg
Tabor schwebt. Der untere Teil zeigt, wie ein mondsüchtiger (epilepsiekranker)
Knabe darauf wartet, von Jesus geheilt zu werden, zusammen mit seinem Vater,
den Aposteln und den anderen Jüngern.
Lucius' Version sah genauso aus wie das
Gemälde, das ich von Dias in einem abgedunkelten Seminarraum kannte - bis ich
genauer hinschaute. Dann sah ich, dass Moses mein Gesicht hatte und Elias das
von Father Michael. Der besessene Knabe - da hatte Lucius sein Selbstporträt
gemalt. Und Shay schwebte in dem weißen Gewand über dem Berg Tabor, den Blick
zum Himmel erhoben.
Ich schob das Bild behutsam wieder in den
Umschlag und blickte den Direktor an. »Ich möchte mit meinem Mandanten reden«,
sagte ich.
Shay betrat den Besprechungsraum. »Hat
der Richter sich entschieden?«
»Noch nicht. Ist ja noch Wochenende.« Ich
holte tief Luft. »Shay, ich habe eine schlechte Nachricht für Sie. Lucius ist
gestern Nacht gestorben.«
Das Licht wich aus seinem Gesicht.
»Lucius?«
»Es tut mir leid.«
»Aber ... es ging ihm doch wieder
besser.«
»Wohl nicht. Es hatte nur den Anschein«,
sagte ich. »Ich weiß, Sie haben gedacht, Sie hätten ihm geholfen. Ich weiß, Sie
wollten ihm unbedingt helfen. Aber Shay, das konnten Sie nicht. Er war schon
dem Tode geweiht, als Sie ihn kennenlernten.«
»Wie ich«, sagte Shay.
Er fiel auf die Knie, als würde die Hand
der Trauer ihn nach unten drücken, und begann zu weinen - und das, so wusste
ich, würde mein Untergang sein. Denn im Grunde reichte das, was Shay von allen
anderen auf der Welt unterschied, bei Weitem nicht so tief wie das, was uns
verband. Okay, mein Haar mochte gepflegter sein, und ich konnte besser reden
als er. Ich war nicht wegen Mordes verurteilt worden. Aber wenn mir jemand
sagen würde, dass der einzige richtige Freund, der mir auf dieser Welt noch
geblieben war, mich verlassen hatte, würde ich auch schluchzend auf die Knie
sinken.
»Shay«, sagte ich hilflos und trat auf
ihn zu. Wieso gab es für diese Art von Trost einfach keine Worte?
»Fassen Sie mich nicht an«, knurrte Shay,
und seine Augen blickten wild. Ich wich im letzten Moment aus, als er nach mir
schlug, und seine Faust zerschmetterte die Doppelglasscheibe, die uns von dem
Aufseher trennte. »Er sollte nicht sterben«, rief Shay. Blut lief von seiner verletzten
Hand auf die Gefängnismontur wie eine Spur der Reue. Aufseher kamen
hereingestürmt, um mich in Sicherheit zu bringen und ihn zu packen und in die
Krankenstation zu bringen, um seine Wunde nähen zu lassen, den Beweis dafür,
dass Shay nicht unbezwingbar war.
Nach meinem Besuch bei Shay verspürte ich
das dringende Bedürfnis, mich zu verkriechen. Falls ich im Bett blieb, wenn
der Richter seine Entscheidung bekannt gab, bedeutete das dann, dass der Kläger
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