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Das Herz ihrer Tochter

Das Herz ihrer Tochter

Titel: Das Herz ihrer Tochter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jodi Picoult
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Büro der Staatsanwaltschaft an und machte mir dann ein
Angebot. Ich durfte Grace nicht mit zu den Zellen nehmen, aber Shay würde ins
Besprechungszimmer gebracht werden, wo er allerdings die Handschellen
anbehalten musste. »Ein zweites Mal lass ich Ihnen das aber nicht durchgehen«,
sagte er warnend. Aber wir wußten beide, dass das im Grunde bedeutungslos war.
Shays Zeit reichte für ein zweites Mal gar nicht mehr aus.
    Grace zitterten die Hände, als sie ihre
Taschen leerte, um durch den Metalldetektor zu gehen. Wir folgten dem Aufseher
schweigend zum Besprechungsraum, doch kaum waren wir allein, ergriff sie das
Wort. »Ich wollte zum Gericht kommen«, sagte Grace. »Ich bin sogar hingefahren.
Ich hab es einfach nicht geschafft, aus dem Wagen zu steigen.« Sie sah mich an.
»Und wenn er mich nicht sehen will?«
    »Ich weiß nicht, in welcher psychischen
Verfassung er ist«, sagte ich. »Er hat den Prozess gewonnen, aber die Mutter des
kranken Mädchens will Shays Herz nicht mehr für ihre Tochter. Ich weiß nicht,
ob seine Anwältin ihm das schon gesagt hat. Falls er Sie nicht sehen will,
könnte das der Grund sein.«
    Wenige Minuten später führten zwei
Aufseher Shay herein. Er blickte hoffnungsfroh, vermutlich in der Erwartung,
dass es Maggie oder mir gelungen war, June umzustimmen.
    Doch als er seine Schwester sah,
erstarrte er. »Gracie? Bist du das?«
    Sie machte einen Schritt auf ihn zu.
»Shay. Es tut mir leid. Es tut mir so schrecklich leid.«
    »Nicht weinen«, flüsterte er. Er wollte
seine Hand heben, um sie zu berühren, doch er trug Handschellen, und so
schüttelte er bloß den Kopf. »Du bist groß geworden.«
    »Als wir uns zuletzt gesehen haben, war
ich fünfzehn.«
    Er lächelte kläglich. »Ja. Ich kam frisch
aus dem Jugendknast, und du wolltest mit deinem Versager von Bruder nichts zu
tun haben. Ich glaube, deine genauen Worte waren: >Halt dich ja von mir
fern.<«
    »Das hab ich doch nur gesagt, weil ich -
weil ich nicht -« Sie schluchzte jetzt heftig. »Ich will nicht, dass du
stirbst.«
    »Ich muss, Grace, um die Dinge in
Ordnung zu bringen ... Ich akzeptiere das.«
    »Ich aber nicht.« Sie blickte zu ihm
hoch. »Ich will es jemandem erzählen, Shay.«
    Er starrte sie einen langen Moment an.
»Na schön«, sagte Shay. »Aber nur einem Menschen, und den darf ich aussuchen.
Und«, fügte er hinzu, »ich darf noch etwas.« Er zog an einem Zipfel des Tuches,
das ihr Gesicht halb verhüllte. Es glitt zwischen ihnen auf den Boden.
    Grace hob die Hände, um ihr Gesicht zu bedecken.
Doch Shay streckte eine Hand aus, so weit es seine Ketten erlaubten, bis Grace
ihre Finger mit seinen verschränkte. Ihre Haut war vernarbt und uneben,
bildete Wirbel an manchen Stellen, war an anderen straff gespannt, eine
Reliefkarte des Schmerzes.
    Shay fuhr ihr mit dem Daumen über die
Stelle, an der ihre Augenbraue hätte sein müssen, über ihre verzerrte Lippe,
als ob er sie neu malen könnte. Sein Gesichtsausdruck war so offen, so verklärt,
dass ich mich fühlte wie ein Eindringling. Ich hatte diesen Ausdruck schon
einmal gesehen - ich wusste nur nicht mehr, wo.
    Und dann fiel es mir wieder ein. Eine
Madonna. Shay blickte seine Schwester genauso an, wie Maria Jesus auf allen
Gemälden ansah, auf allen Skulpturen - eine Beziehung, die nicht aus dem geformt
war, was sie hatten, sondern aus dem, was zu verlieren ihnen bestimmt war.
     
    JUNE
     
    Ich hatte die Frau, die in Claires
Krankenzimmer kam, noch nie gesehen, aber ich würde sie nie mehr vergessen. Ihr
Gesicht war furchtbar entstellt - wie bei Menschen, bei denen man seinen
Kindern im Supermarkt sagt, sie sollen sie nicht anstarren, und sich dann
selbst dabei ertappt.
    »Entschuldigung«, sagte ich leise und
erhob mich von dem Stuhl, den ich an Claires Bett gerückt hatte. »Sie müssen
sich im Zimmer geirrt haben.« Jetzt, da ich Claires Wunsch erfüllt und auf das
Herz verzichtet hatte - jetzt, da sie ganz allmählich starb-, war ich rund um
die Uhr bei ihr. Ich schlief nicht, ich aß nicht, weil ich wusste, in all den
kommenden Jahren würden mir diese Minuten mit ihr fehlen.
    »Sind Sie June Nealon?«, fragte die Frau,
und als ich nickte, trat sie einen Schritt näher. »Mein Name ist Grace. Ich bin
Shay Bournes Schwester.«
    Augenblicklich begann mein Herz zu rasen,
meine Hände zitterten. »Raus«, sagte ich mit zusammengebissenen Zähnen.
    »Bitte. Hören Sie mich an. Ich möchte
Ihnen erzählen, warum ich ... warum ich so aussehe.«
    Ich warf einen

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