Das Herz ihrer Tochter
Blick auf Ciaire, aber ich
machte mir nichts vor: Wir hätten aus vollem Hals brüllen können, ohne sie
aufzuwecken, so weggetreten war sie von den Medikamenten. »Wie kommen Sie
darauf, dass ich das wissen will?«
Sie fuhr fort, als hätte ich gar nichts
gesagt. »Als ich dreizehn war, brach in dem Haus unserer Pflegeeltern ein Feuer
aus. Mein Pflegevater kam dabei ums Leben.« Sie trat noch einen Schritt näher.
»Ich bin reingelaufen, um ihn rauszuholen. Shay ist hinter mir her und hat mich
gerettet.«
»Tut mir leid, aber ich werde mir Ihren
Bruder nicht als Helden vorstellen.«
»Als die Polizei kam, hat Shay gesagt, er
hätte den Brand gelegt«, sagte Grace.
Ich verschränkte die Arme. Sie hatte noch
nichts gesagt, was mich überraschte. Ich wusste, dass Shay bei etlichen
Pflegestellen gewesen war. Ich wusste, dass er eine Jugendstrafe abgesessen
hatte. Er konnte von mir aus eine hundertmal schlimmere Kindheit gehabt haben,
es würde in meinen Augen nicht als Entschuldigung dafür herhalten, dass er
meinen Mann und meine kleine Tochter ermordet hatte.
»Die Sache ist die«, sagte Grace, »Shay
hat gelogen.« Sie fuhr sich mit der Hand durchs Haar. »Ich hatte das Feuer
gelegt.«
»Meine Tochter liegt im Sterben«, sagte
ich gereizt. »Tut mir leid, dass Sie eine so traumatische Vergangenheit hatten.
Aber im Moment hab ich andere Sorgen.«
Grace redete trotzdem weiter. »Es
passierte immer, wenn meine Pflegemutter ihre Schwester besuchen fuhr. Dann kam
ihr Mann in mein Zimmer. Ich hab immer drum gebeten, nachts das Licht anlassen
zu dürfen. Am Anfang, weil ich Angst im Dunkeln hatte, später dann, weil ich
hoffte, jemand würde mitkriegen, was er mit mir machte.« Sie hielt inne.
»Eines Tages dann hab ich es geplant. Meine Pflegemutter übernachtete wieder
bei ihrer Schwester, und Shay war - keine Ahnung wo, jedenfalls nicht zu Hause.
Ich hab gar nicht richtig überlegt, wie schlimm es werden könnte, als ich das
Streichholz anzündete - und dann bin ich rein ins Haus, um meinen Pflegevater
zu wecken. Aber jemand hat mich gepackt und wieder rausgezogen - Shay. Und als
die Sirenen näher kamen, hab ich ihm alles erzählt, und er hat mir versprochen,
sich um alles zu kümmern. Ich war nie auf die Idee gekommen, dass er meinte, die Schuld auf sich zu
nehmen - aber er wollte es so, weil er vorher nicht imstande gewesen war, mich
zu schützen.« Grace blickte auf. »Ich weiß nicht, was vor elf Jahren bei Ihnen
zu Hause passiert ist, mit Ihrem Mann und Ihrer kleinen Tochter und meinem
Bruder. Aber ich bin überzeugt, es war nicht so, wie alle glauben. Ich bin
sicher, Shay hat versucht, Ihre Tochter so zu schützen, wie er mich nicht hatte
schützen können.«
»Was reden Sie da«, sagte ich. »Mein Mann
hätte Elizabeth niemals etwas angetan.«
»Das hat meine Pflegemutter auch gesagt.«
Sie sah mir in die Augen. »Ich möchte nicht, dass mein Bruder stirbt. Wie
hätten Sie damals reagiert, wenn jemand - als Elizabeth starb - zu Ihnen gesagt
hätte, dass Sie sie zwar nicht zurückhaben können, dass aber ein Teil von ihr
irgendwo auf der Welt weiterexistieren könnte? Sie würden den Teil zwar nicht
kennen, nicht mal Kontakt zu ihm haben - aber Sie wüßten, dass er irgendwo da
draußen ist, quicklebendig. Hätten Sie das gewollt?«
Wir standen beide auf derselben Seite von
Claires Bett. Grace Bourne war fast genauso groß wie ich, hatte fast die
gleiche Statur. Trotz ihrer Narben hatte ich das Gefühl, in einen Spiegel zu
schauen. »Da ist immer noch ein Herz, June«, sagte sie. »Und es ist ein gutes.«
Wir reden uns ein, unsere Kinder zu
kennen, weil es leichter ist, als uns die Wahrheit einzugestehen - dass sie von
der Sekunde an, in der die Nabelschnur durchtrennt wird, Fremde sind. Es ist
wesentlich einfacher, dir einzureden, deine Tochter sei noch ein kleines
Mädchen, als sie im Bikini zu sehen und ihre zarten Rundungen wahrzunehmen.
Man liebt das Gefühl, eine gute Mutter zu sein, die mit ihrer Tochter offen
über Drogen und Sex redet - statt sich klarzumachen, dass sie tausend Dinge
verschweigt.
Wie lange war es her, dass Ciaire
beschlossen hatte, nicht länger kämpfen zu können? Hatte sie mit einer
Freundin darüber gesprochen, es einem Tagebuch anvertraut oder Dudley, weil ich
nicht zuhörte? Und hatte ich das schon einmal getan, hatte ich meine andere
Tochter ignoriert, weil ich Angst davor hatte, was sie mir zu sagen hätte?
Grace Bournes Worte wollten mir nicht
mehr aus dem Kopf:
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