Das Herz ihrer Tochter
Calloway - mit dem verdrehten Ehrenkodex seiner Aryan
Brotherhood im Blut - besser als jeder andere. »Ich rate dir, schön in deiner
Zelle zu bleiben«, sagte Calloway, »weil, wenn ich dich irgendwann in die
Finger kriege, polier ich dir derart die Fresse, dass deine eigene Mama dich
nicht wiedererkennt.« Doch noch während er Shay drohte, wickelte Calloway den
toten Vogel behutsam in ein Taschentuch und band das kleine Bündel an das Ende
seiner Angelschnur.
Als der Vogel bei mir ankam, zog ich ihn
durch den schmalen Spalt unter meiner Zellentür. Er sah ziemlich hinüber aus,
die geschlossenen Augen durchscheinend blau. Ein Flügel war böse nach hinten
geknickt, der Kopf hing schlaff zur Seite.
Shay warf mir seine Angelschnur zu, die
mit einem Kamm am Ende beschwert war. Ich sah, wie seine Hände das
eingewickelte Rotkehlchen behutsam in die Zelle zogen. Die Lampen auf dem
Laufgang flackerten.
Ich hab mir oft vorgestellt, was als
Nächstes geschah. Mit den Augen eines Künstlers male ich mir gern aus, wie Shay
auf dem Bett saß, das Vögelchen in den Händen. Ich stelle mir die Berührung
eines Menschen vor, der dich so sehr liebt, dass er es nicht ertragen kann,
dich schlafen zu sehen, und deshalb wachst du auf, mit seiner Hand auf deinem
Herzen. Letztendlich jedoch spielt es keine große Rolle, wie Shay es gemacht
hat: Was zählt, ist das Ergebnis: dass wir alle das Piccoloflötentrillern
dieses Rotkehlchens hörten und dass Shay den wieder auferstandenen Vogel unter
seiner Zellentür hindurch auf den Laufgang schob, über den es munter auf
Calloways ausgestreckte Hand zuhüpfte.
JUNE
Als Mutter kannst du in das Gesicht
deines erwachsenen Kindes blicken und statt dessen das Baby sehen, das einst
aus seinem Bettchen zu dir aufschaute. Du kannst sehen, wie deine elfjährige
Tochter sich die Nägel mit Glitterlack bemalt, und daran denken, wie sie vor
dem Überqueren einer Straße deine Hand ergriff. Du kannst den Arzt sagen hören,
richtig gefährlich wird es in der Pubertät, weil man nicht weiß, wie das Herz
auf Wachstumsschübe reagiert - und du kannst so tun, als wäre das noch eine
Ewigkeit weit weg.
»Zwei von drei«, sagte Ciaire in ihrem
Krankenhaushemd und hob erneut die Faust.
Ich tat es ihr gleich. Schnick,
schnack, schnuck.
»Papier.« Ciaire grinste. »Gewonnen.«
»Von wegen«, sagte ich. »Schere schlägt
doch wohl Papier.«
»Ach, hab ich ganz vergessen zu sagen: Es
regnet, und die Schere ist rostig geworden, deshalb schiebst du das Papier drunter
und trägst sie weg.«
Ich lachte. Ciaire bewegte sich leicht,
darauf bedacht, dass von den Schläuchen und Drähten keiner rausrutschte. »Wer
füttert Dudley?«, fragte sie.
Dudley war unser Hund - ein dreizehn
Jahre alter Springer Spaniel, der zusammen mit mir die einzige dauerhafte
Verbindung zwischen Ciaire und ihrer toten Schwester darstellte. Auch wenn
Ciaire und Elizabeth sich nie begegnet waren, sie hatten beide Spaß daran
gehabt, Dudley falsche Perlenketten um den Hals zu hängen und ihn wie das
Geschwisterchen zu verkleiden, das sie nie hatten. »Mach dir wegen Dudley keine
Sorgen«, sagte ich. »Wenn's sein muss, ruf ich Mrs. Morrissey an.«
Ciaire nickte und sah auf die Uhr an der
Wand. »Ich dachte, die wären längst wieder da.«
»Ich weiß, Schätzchen.«
»Wieso dauert das denn so lange?«
Auf diese Frage gab es hundert Antworten,
aber als Erste kam mir die in den Sinn, dass irgendwo zwei Staaten weiter eine
andere Mutter Abschied von ihrem Kind nehmen musste, damit ich die Chance
bekam, meines zu behalten.
Die Fachbezeichnung für Claires Krankheit
lautete dilatative Kardiomyopathie, von der jährlich zwölf Millionen Kinder betroffen
waren. Das bedeutete, dass Claires Herzkammern erheblich vergrößert und
gedehnt waren, dass das Herz das Blut nicht richtig weiterpumpen konnte. Die
Krankheit war weder zu heilen noch rückgängig zu machen, wer Glück hatte,
konnte damit leben. Wer nicht, starb an Herzversagen. Bei Kindern waren die
Ursachen in 79 Prozent der Fälle unbekannt. Manche Experten sahen eine
Myokarditis oder andere Virusinfektionen im Säuglingsalter als Auslöser,
andere meinten, die Krankheit werde von einem Elternteil mit einem Gendefekt
vererbt. Ich hatte bei Ciaire stets Letzteres vermutet. Ein Kind, das von einer
trauernden Mutter geboren wurde, musste doch mit einem schweren Herzen zur Welt
kommen.
Am Anfang wusste ich nichts von ihrer
Erkrankung. Sie wurde schneller müde als andere
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