Das Herz ihrer Tochter
Babys, aber da ich mich selbst
noch wie in Zeitlupe bewegte, fiel mir das nicht auf. Erst als sie fünf war und
wegen einer hartnäckigen Grippe ins Krankenhaus kam, wurde die Diagnose
gestellt. Dr. Wu sagte, Ciaire habe eine leichte Arrhythmie, die sich bessern könne,
vielleicht aber auch nicht. Er verschrieb ihr Captopril, Lasix, Lanoxin und
meinte, wir müßten einfach abwarten.
Am Morgen ihres ersten Tages in der
fünften Klasse sagte Ciaire, sie fühle sich, als hätte sie einen Kolibri
verschluckt. Ich dachte, das wäre normale Nervosität am ersten Schultag nach
den Ferien, doch Stunden später - als sie aufstand, um an der Tafel eine
Matheaufgabe zu lösen - klappte sie zusammen. Fortschreitende
Rhythmusstörungen ließen ihr Herz kraftlos flattern - es pumpte einfach kein
Blut mehr. Schon mal gehört, dass ein scheinbar kerngesunder Basketballspieler
während eines Spiels tot zusammengebrochen ist? Die Ursache dafür ist Herzkammerflimmern,
und genau das hatte Ciaire. Ihr wurde ein AICD eingepflanzt - ein automatischer
implantierbarer Cardio-Defibrillator, oder einfacher ausgedrückt, eine
winzige, eingebaute Notaufnahme direkt an ihrem Herzen, die zukünftige Arrhythmien
mittels eines Stromstoßes wieder beheben würde. Und sie kam auf die Warteliste
für eine Transplantation.
Das Transplantationsspiel war eine
knifflige Angelegenheit - sobald man ein Spenderherz erhielt, tickte die Uhr,
und nicht immer ging die Sache mit einem Happy End aus. Keiner wollte so lange
auf eine Transplantation warten, bis die übrigen Organe allmählich ihre Arbeit
einstellten. Aber selbst eine Transplantation konnte keine Wunder bewirken:
Bei den meisten Empfängern kam es nach zehn oder fünf zehn Jahren zu
Komplikationen oder gar zu einer Abstoßung. Dennoch, wie Dr. Wu sagte, in
fünfzehn Jahren war es vielleicht schon möglich, ein Herz im Katalog zu
bestellen und es sich preiswert einpflanzen zu lassen ... Es galt also, Ciaire
so lange am Leben zu halten, dass sie von medizinischen Neuerungen profitieren
konnte.
Heute Morgen war der Piepser losgegangen,
den wir immer dabeihatten. Wir
haben ein Herz, hatte Dr. Wu gesagt,
als ich anrief. Wir treffen uns im
Krankenhaus.
In den letzten sechs Stunden hatte man
Ciaire völlig auf den Kopf gestellt und so weit vorbereitet, dass sie
schnurstracks in den OP geschoben werden konnte, sobald das Wunderorgan in
seinem kleinen Kühlbehälter eintraf. Der Augenblick, den ich seit nunmehr sechs
Jahren herbeisehnte und fürchtete, war gekommen.
Und was, wenn... ich konnte nicht mal den
Gedanken zu Ende führen.
Statt dessen nahm ich Claires Hand und
verschränkte unsere Finger. Papier
und Schere, dachte ich. Wir sitzen in der Zwickmühle. Ich
betrachtete ihr Engelshaar, wie ein Fächer auf dem Kopfkissen, die leicht
bläuliche Tönung ihrer Haut, die feenleichten Knochen eines Mädchen, dem der
eigene Körper noch immer zu viel abverlangte. Manchmal, wenn ich sie
betrachtete, sah ich sie gar nicht; statt dessen tat ich so, als wäre sie -
»Was, glaubst du, wie sie ist?«
Ich blinzelte, erschrocken. »Wer?«
»Das Mädchen. Das gestorben ist.«
»Ciaire«, sagte ich. »Lass uns nicht
darüber reden.«
»Wieso nicht? Findest du nicht, wir
sollten alles über sie wissen? Sie wird schließlich ein Teil von mir.«
Ich berührte ihren Kopf. »Wir wissen ja
nicht mal, ob es ein Mädchen ist.«
»Na klar ist es ein Mädchen«, sagte
Ciaire. »Wäre ja wohl voll eklig, das Herz von einem Jungen zu kriegen.«
»Ich glaube nicht, dass das bei der
Auswahl eine Rolle spielt.«
Sie schauderte. »Sollte es aber.« Ciaire
setzte sich mit Mühe auf. »Glaubst du, ich bin dann anders?«
Ich beugte mich vor und gab ihr einen
Kuß. »Du«, sagte ich betont, »wirst aufwachen und noch immer dasselbe Mädchen
sein, das keine Lust hat, sein Zimmer aufzuräumen oder mit Dudley Gassi zu
gehen, und überall das Licht anläßt.«
Das alles sagte ich zu Ciaire. Doch was
ich hörte, waren nur die drei Worte: Du
wirst aufwachen.
Eine Schwester kam herein. »Wir haben
eben gehört, dass das Herz jetzt entnommen wird«, sagte sie. »Wir müßten in
Kürze mehr erfahren. Dr. Wu telefoniert mit dem dortigen OP-Team.«
Nachdem sie gegangen war, saßen Ciaire
und ich schweigend da. Plötzlich war es real geworden - die Ärzte würden
Claires Brust öffnen, ihr Herz zum Stillstand bringen und ein neues einsetzen.
Wir hatten uns beide schon von diversen Ärzten Risiken und Nutzen erläutern
lassen; wir
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