Das Herz ihrer Tochter
Brötchen verdienen. Nur wir zwei? Das kann kein schöner Nachmittag
werden. Ich hin vielleicht ein Vielfraß, aber keine Masochistin. Statt dessen nickte ich, obwohl wir beide wußten, dass ich nicht die
Absicht hatte zu kommen.
Als ich klein war, veranstaltete meine
Mutter Wellnesstage in der Küche, nur für mich. Dann mixte sie Pflegespülungen
aus Papaya und Banane zusammen; sie rieb mir Schultern und Arme mit Kokosnussöl
ein; sie legte mir Gurkenscheiben auf die Augen und sang mir Songs von Sonny
& Cher vor. Anschließend hielt sie mir einen Handspiegel vors Gesicht. Was hab ich doch für ein hübsches Mädchen, sagte sie dann, und eine ganze Weile glaubte ich ihr sogar.
»Komm mit in die Synagoge«, sagte meine
Mutter. »Bloß heute Abend. Dein Vater würde sich so freuen.«
»Vielleicht beim nächsten Mal«,
antwortete ich.
Ich ging mit ihnen raus zu ihrem Wagen.
Mein Vater ließ den Motor an und öffnete sein Fenster. »Als ich noch studiert
habe«, sagte er, »da hing in der Nähe der U-Bahn-Station immer ein Obdachloser
herum. Er hatte eine zahme Maus, die auf seiner Schulter saß und an seinem
Mantelkragen nagte, und den Mantel hat er nie ausgezogen, nicht mal wenn es
richtig heiß war. Er kannte das ganze erste Kapitel von Moby Dick auswendig.
Ich hab ihm immer fünfundzwanzig Cent gegeben, wenn ich vorbeikam.«
Das Auto eines Nachbarn brauste vorbei -
er war in der Gemeinde meines Vaters und hupte zur Begrüßung.
Mein Vater lächelte. »Das Wort Messias kommt im Alten
Testament nicht vor... bloß das hebräische Wort für der Gesalbte. Er
ist kein Erlöser, er ist ein König oder ein Priester mit einer bestimmten
Absicht. Aber im Midrasch - na ja, darin wird der Moschiach häufig
erwähnt, und er sieht jedes Mal anders aus. Manchmal ist er ein Soldat,
manchmal ist er ein Politiker, manchmal hat er übernatürliche Kräfte. Und
manchmal ist er gekleidet wie ein Landstreicher. Weißt du, warum ich dem
Obdachlosen jedes Mal eine Münze gegeben habe?«, sagte er. »Ich habe mir
gedacht: Man kann nie wissen.«
Dann legte er den Rückwärtsgang ein und
setzte aus der Einfahrt. Ich stand da, bis ich sie nicht mehr sehen konnte,
und fuhr dann nach Hause.
MICHAEL
Bevor man das Innere eines Gefängnisses
betreten darf, wird einem fast alles genommen, was man am Leib trägt: Schuhe,
Gürtel, Brieftasche, Uhr, Heiligenmedaillon, loses Kleingeld, Handy, sogar das
Kruzifix am Revers.
»Sir?«, sagte der Uniformierte. »Alles in
Ordnung mit Ihnen?«
Ich setzte ein Lächeln auf und nickte,
stellte mir vor, was er vor sich sah: einen großen kräftigen Mann, der bei dem
Gedanken zitterte, dieses Gefängnis zu betreten. Klar, ich fuhr einen Triumph
Trophy, arbeitete ehrenamtlich mit Bandenjugendlichen und widerlegte das
Klischee von einem Priester in vielerlei Hinsicht - aber hier saß der Mann
ein, dessen Tod ich mit meiner Stimme besiegelt hatte.
Und dennoch.
Seit ich mein Gelübde abgelegt und Gott
gebeten hatte, mir dabei zu helfen, das, was ich einem Menschen angetan hatte,
dadurch wettzumachen, dass ich etwas für andere tat, wusste ich, dass es eines
Tages passieren würde. Ich wusste, ich würde Shay Bourne irgendwann vis-a-vis
gegenübersitzen.
Würde er mich wiedererkennen?
Würde ich ihn wiedererkennen?
Als ich durch den Metalldetektor ging,
hielt ich den Atem an, als hätte ich etwas zu verbergen. Und das hatte ich wohl
auch, aber meine Geheimnisse würden den Alarm nicht auslösen. Ich zog meinen
Gürtel wieder durch die Schlaufen meiner Hose, band mir meine Sneakers zu.
Meine Hände zitterten immer noch. »Father Michael?« Ich blickte auf und sah
einen Aufseher vor mir stehen. »Direktor Coyne erwartet Sie.«
»Ich komme.« Ich folgte dem Mann durch
triste graue Gänge. Wenn wir an Häftlingen vorbeikamen, schob der Aufseher sich
wie ein Schutzschild zwischen sie und mich.
Ich wurde zu einem Büro gebracht, von dem
aus der ganze Innenhof der Strafanstalt zu überblicken war. Eine Gruppe Gefangener
ging im Gänsemarsch von einem Gebäude zu einem anderen. Hinter ihnen erstreckte
sich eine Doppelreihe Zäune, die oben mit Stacheldraht bespannt waren. »Father
Michael.«
Der Direktor war ein untersetzter Mann
mit Silberhaar, und er begrüßte mich mit Handschlag und einer Grimasse, die
vermutlich ein Lächeln sein sollte. »Direktor Coyne. Freut mich, Sie
kennenzulernen.«
Sein Büro war überraschend modern
eingerichtet, ein luftiger Raum ohne Schreibtisch - bloß ein
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