Das Herz ihrer Tochter
Ruf mich später
an, und erzähl mir alles ganz genau. Deine Mutter nimmt die Nachrichten für uns
auf.«
Ich legte auf und warf das Handy auf den
Beifahrersitz. Mein Vater, der seine Brötchen mit dem Studium des jüdischen
Gesetzes verdiente, hatte immer ein gutes Auge für die grauen Bereiche rund
um die schwarzen Buchstaben. Meine Mutter dagegen besaß ein beachtliches Talent
dafür, einem die Feierstimmung zu verderben. Ich bog in meine Einfahrt, und als
ich das Haus betrat, begrüßte Oliver mich an der Tür. »Ich brauch einen Drink«,
sagte ich zu ihm, und er legte ein Ohr schief, denn schließlich war es erst
Viertel vor zwölf. Ich strebte schnurstracks zum Kühlschrank - der, anders als
meine Mutter es sich wahrscheinlich vorstellte, an Eßbarem lediglich Ketchup,
ein Glas Peperoni, Olivers Möhren und Joghurt mit einem Verfallsdatum aus der
Regierungszeit von Bill Clinton enthielt - und goß mir ein Glas Chardonnay ein.
Ich wollte angenehm beschwipst sein, ehe ich den Fernseher einschaltete, wo
meine Sternstunde jetzt zweifellos durch ein unvorteilhaftes Kostüm mit
Nadelstreifen getrübt werden würde.
Oliver und ich machten es uns auf der
Couch bequem, als die Erkennungsmelodie der Mittagsnachrichten durch mein Wohnzimmer
schallte. Die Moderatorin, eine Frau mit einem blonden Helmkopf, lächelte in
die Kamera. Hinter ihr war eine amerikanische Flagge eingeblendet, quer übers
Bild der Schriftzug: KEIN TREUEEID? »Die heutige Topstory, ein
Highschoolschüler hat sich vor Gericht das Recht erstritten, morgens vor dem
Unterricht nicht den Eid auf die amerikanische Fahne sprechen zu müssen.« Ein
Einspieler zeigte die Stufen des Gerichtsgebäudes, wo ich mit etlichen
Mikrofonen vor der Nase zu sehen war.
Verdammt, das Kostüm machte mich
tatsächlich dick.
»Einen beeindruckenden Sieg für die
Bürgerrechte«, setzte ich an, als mein Gesicht plötzlich verschwand und der
Schriftzug SONDERMELDUNG eingeblendet wurde. Sofort wurde auf eine
Liveübertragung umgeschaltet, und ich sah eine kleine Zeltstadt vor der
Strafanstalt in Concord, mit Menschen, die Plakate hochhielten und ... war das
da eine Phalanx von Rollstühlen?
Die Haare der Reporterin flatterten im
Wind. »Ich bin Janice Lee und berichte live von der Strafanstalt in Concord,
New Hampshire, wo der Mann, den andere Häftlinge den Messias in der Todeszelle
nennen, auf seine Hinrichtung wartet.«
Ich nahm Oliver und setzte ihn mir auf
den Schoß. Hinter der Reporterin standen Dutzende von Menschen - ich konnte
nicht erkennen, ob es Schaulustige waren oder Protestler. Manche hoben sich von
der Menge ab: der Mann mit der Reklametafel, auf der Johannes 3:16 stand, die
Mutter, die ein teilnahmsloses Kind an sich drückte, die kleine Gruppe Nonnen,
die den Rosenkranz beteten.
»Wie wir bereits berichteten«, sagte die
Reporterin, »haben sich in der Strafanstalt unerklärliche Vorfälle ereignet,
seit Shay Bourne - der einzige Häftling, der in New Hampshire seiner
Hinrichtung entgegensieht - den Wunsch erklärt hat, nach seiner Hinrichtung
seine Organe zu spenden. Heute könnte der wissenschaftliche Beweis erfolgen,
dass diese Vorfälle kein Zauber sind ... sondern etwas mehr.«
Das Gesicht eines Uniformierten füllte
den Bildschirm - Gefängnisaufseher Rick Whitaker, wurde unten eingeblendet.
»Der erste Vorfall war das Leitungswasser«, sagte er. »Eines Abends während
meiner Schicht waren die Häftlinge betrunken, und es konnten an dem Tag
tatsächlich Restbestände von Alkohol in den Rohrleitungen nachgewiesen werden.
Einige der Häftlinge haben erzählt, ein Vogel, der heimlich von einem Häftling
gehalten wurde, sei wieder zum Leben erweckt worden, ich selbst hab davon
allerdings nichts mitbekommen. Aber am dramatischsten war das, was mit Häftling
DuFresne passiert ist.«
Die Reporterin meldete sich wieder zu
Wort: »Wie wir aus zuverlässiger Quelle erfahren haben, wurde Häftling Lucius
DuFresne, der im fortgeschrittenen Stadium an Aids erkrankt ist, wie durch ein
Wunder geheilt. In einer Sondersendung heute um achtzehn Uhr werden wir mit
Ärzten im Dartmouth-Hitchcock Medical Center darüber sprechen, ob es dafür
eine medizinische Erklärung gibt... doch für die neu bekehrten Anhänger des
Messias in der Todeszelle«, sagte die Reporterin und deutete mit einer
Handbewegung auf die Menschenmenge hinter ihr, »ist alles möglich. Ich gebe
zurück ins Studio.«
Ehe das Bild umschaltete, sah ich noch
ein bekanntes Gesicht in der Menge -
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