Das Herz ihrer Tochter
DeeDee, die mir im Wellnessstudio ein
Body-Wrapping hatte angedeihen lassen. Mir fiel wieder ein, dass ich ihr
versprochen hatte, mir den Fall Shay Bourne noch einmal genauer anzuschauen.
Ich nahm das Handy und rief meinen Boss
im Büro an. »Guckst du die Nachrichten?«
Rufus Urqhart, Leiter der ACLU in New
Hampshire, hatte zwei Fernsehapparate auf seinem Schreibtisch, die er auf zwei
verschiedene Sender eingestellt hatte, um nichts Wichtiges zu verpassen. »Ja«,
sagte er. »Ich wollte eigentlich dich bewundern.«
»Der Messias in der Todeszelle hat mir
die Schau gestohlen.«
»Gegen Göttlichkeit kommt man eben nicht
an«, sagte Rufus.
»Du sagst es«, erwiderte ich. »Rufus, ich
will was für ihn tun.«
»Wach auf, Liebes, du tust doch schon was
für ihn. Mit deinen Protestschreiben«, sagte Rufus.
»Nein - ich meine, ich will ihn als
Mandanten. Gib mir eine Woche«, flehte ich.
»Hör mal, Maggie, der Typ hat schon
sämtliche Instanzen durch. Und wenn ich mich recht erinnere, hat das Oberste
Bundesgericht Bournes letzte Berufung abgelehnt... ich weiß echt nicht, wie wir
die Tür für ihn wieder aufmachen sollen.«
»Wenn er denkt, er sei der Messias«,
sagte ich, »hat er uns gerade eine Brechstange in die Hand gedrückt.«
Das Recht auf freie Religionsausübung
während der Verbüßung einer Haftstrafe wurde im Jahre 2005 im Fall Cutter gegen Wilkinson durch
eine Entscheidung des Obersten Bundesgerichts bestätigt. In einer Strafanstalt
in Ohio hatten fünf Häftlinge, allesamt bekennende Satanisten, den Bundesstaat
verklagt, weil sie sich in der Ausübung ihrer Religion eingeschränkt fühlten.
Seitdem mussten Strafanstalten garantieren, dass die Insassen ihre Religion
praktizieren konnten - ohne denjenigen, die das nicht wollten, Religion
aufzuzwingen.
»Satanisten?«, sagte meine Mutter und
legte Messer und Gabel hin. »Der Mann ist ein Satanist?«
Ich war bei ihnen zum Abendessen, wie
jeden Freitag, ehe sie zum Sabbatgottesdienst gingen, reichte mal wieder die
Röstkartoffeln weiter und hörte zu, wie mein Vater den Kiddusch über den Wein
sprach.
»Keine Ahnung«, erwiderte ich. »Ich hab
ihn noch nicht persönlich kennengelernt.«
»Haben Satanisten denn einen Messias?«,
fragte mein Vater.
»Darum geht's nicht. Das Gesetz besagt,
dass auch Gefängnisinsassen ein Recht auf Ausübung ihrer Religion haben,
solange der Gefängnisbetrieb dadurch nicht beeinträchtigt wird.« Ich zuckte die
Achseln. »Außerdem, was, wenn er tatsächlich der Messias ist? Sind wir dann
nicht moralisch verpflichtet, sein Leben zu retten, wenn er hier ist, um die
Welt zu retten?«
Mein Vater schnitt ein Stück von seinem
Roastbeef ab. »Er ist nicht der Messias.«
»Und das weißt du, weil...?«
»Er ist kein Krieger. Er hat nicht den
souveränen Staat Israel unterstützt. Er hat nicht den Weltfrieden verkündet.
Und schön, er hat vielleicht etwas Totes wieder lebendig gemacht, aber wenn er
der Messias wäre, hätte er jeden wieder zum Leben erweckt. Und wenn das der
Fall wäre, dann säßen deine Großeltern jetzt hier mit uns am Tisch und würden
fragen, ob noch Bratensoße da ist.«
»Es gibt einen Unterschied zwischen einem
jüdischen Messias, Dad, und ... na ja ... dem anderen.«
»Wie kommst du darauf, dass es mehr als
einen gibt?«, fragte er.
»Wie kommst du darauf, dass es nur einen
gibt?«, konterte ich. Meine Mutter warf ihre Serviette hin. »Ich hol mir ein
Aspirin«, sagte sie und stand vom Tisch auf.
Mein Vater grinste mich an. »Du hättest
eine prima Rabbinerin abgegeben, Mags.«
»Ja, wenn mir bloß nicht ständig die lästige
Religion in die Quere käme.«
Natürlich war ich jüdisch erzogen worden.
Ich hatte jeden Freitagabend brav im Gottesdienst gesessen und den Höhenflügen
der sonoren Stimme des Kantors gelauscht. Ich schaute zu, wie mein Vater
ehrfürchtig die Tora trug, und das erinnerte mich immer daran, wie er auf
Babyfotos von mir aussah, wenn er mich auf dem Arm hielt. Aber irgendwann kam
auch der Punkt, an dem ich vor lauter Langeweile auswendig lernte, wer im 4. Buch Mose alles wen zeugte.
Je mehr ich über die jüdischen Gesetze lernte, desto mehr hatte ich das Gefühl,
dass ich als Mädchen zwangsläufig als unrein oder beschränkt galt. Ich hatte
meine Bat-Mizwa, wie es meine Eltern wünschten, und einen Tag nachdem ich aus
der Tora gelesen und meinen Übergang ins Erwachsenenalter gefeiert hatte,
eröffnete ich ihnen, ich würde nie wieder in die Synagoge
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