Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Herz ihrer Tochter

Das Herz ihrer Tochter

Titel: Das Herz ihrer Tochter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jodi Picoult
Vom Netzwerk:
begleiten. Meine Großmutter gab uns einen kleinen Imbiß mit und setzte mir
eine alte Baseballmütze zum Schutz gegen die Sonne auf. »Vielleicht kannst du
ihn ja zur Vernunft bringen«, sagte sie. Ich wusste aus den unzähligen
Predigten, die ich gehört hatte, was mit denen geschah, die nicht richtig glaubten,
daher kletterte ich in sein kleines Aluminiumboot und wartete, bis wir unter
dem überhängenden Ast einer Weide am Ufer angehalten hatten. Mein Großvater
reichte mir eine Angel und warf dann seine alte Bambusrute aus.
    Eins, zwei, drei, eins, zwei, drei. Das Fliegenfischen hatte einen Rhythmus wie ein Standardtanz. Ich
wartete, bis wir die lange Schnur über dem See ausgeworfen hatten, bis die
Fliegen, die mein Großvater in seinem Keller mühselig selbst gebunden hatte,
federleicht auf der Wasseroberfläche trieben. »Grandpa«, sagte ich, »du willst
doch nicht in die Hölle kommen, oder?«
    »Ach du je«, erwiderte er. »Hat deine
Großmutter dich angestiftet?«
    »Nein«, log ich. »Ich versteh bloß nicht,
warum du nie mit uns zur Messe gehst.«
    »Ich hab meine eigene Messe«, sagte er.
»Ich brauche keinen Burschen im Meßgewand, der mir sagt, was ich glauben soll
und was nicht.«
    »Aber du hast dich von einem Priester
trauen lassen.« Er seufzte. »Ja, und ich war sogar auf der katholischen Schule,
genau wie du.«
    »Wieso bist dann irgendwann nicht mehr in
die Kirche gegangen?«
    Ehe er antworten konnte, spürte ich den
Ruck an meiner Angelschnur, was immer ein Gefühl wie Weihnachten war. Ich holte
langsam die Schnur ein, an deren Ende der dickste Fisch zappeln musste, den ich
je gefangen hatte. Endlich brach er aus dem Wasser, als würde er neugeboren.
    »Ein Lachs!«, jubelte mein Großvater.
»Zehn Pfund, mindestens ... stell dir vor, was für eine Strecke der hinter
sich hat vom Meer hierher zurück zu seinem Laichplatz.« Er hielt grinsend den
Fisch hoch. »Ich hab seit den Sechzigern hier im See keinen mehr gesehen!«
    Ich betrachtete den Fisch, der noch immer
an meiner Schnur hing, wie er zappelte, in all seiner Pracht. Er schimmerte
silbern und golden und dunkelrot zugleich.
    Mein Großvater hielt den Lachs fest,
sodass er ihn vom Köder befreien konnte, und setzte den Fisch wieder in den
See. Er schwamm davon, und wir schauten der winkenden Schwanzflosse nach, dem
rötlichen Rücken. »Wer sagt, dass man in der Kirche suchen muss, wenn man an
einem Sonntagmorgen Gott finden will?«, murmelte mein Großvater.
    Noch lange Zeit danach glaubte ich, dass
mein Großvater recht hatte: Gott war in den kleinen Dingen. Doch da wusste ich
noch nicht, was noch alles dazugehörte, um wahrhaft zu glauben: die
Sonntagsmesse und die kirchlichen Feiertage, der Empfang der Eucharistie,
einmal im Jahr zur Beichte, den Bedürftigen Geld spenden, Einhaltung der
Fastenzeit. Oder anders ausgedrückt - nur weil jemand sagt, er ist Katholik,
ist er noch längst keiner, man muss auch was dafür tun.
    Im Priesterseminar meinte ich manchmal
noch, die Stimme meines Großvaters zu hören: Ich dachte, Gott würde uns bedingungslos lieben. Das sind aber ganz
schön viele Bedingungen für meinen Geschmack.
    Ehrlich gesagt, irgendwann hörte ich
einfach nicht mehr hin.
    Als ich das Gefängnis verließ, hatte sich
die Menschenmenge davor verdoppelt. Außer den Kranken, Gebrechlichen, den
Alten und den Hungrigen hatte sich auch eine kleine Gruppe Nonnen aus einem
Kloster in Maine eingefunden, und ein Chor sang: »Heilig, heilig, heilig!« Ich
war erstaunt, wie viele Leute durch Gerüchte über sogenannte Wunder bekehrt
werden konnten, und so schnell.
    »Guck mal«, hörte ich eine Frau sagen,
die auf mich zeigte. »Sogar Father Michael ist da.«
    Sie war aus meiner Gemeinde, und ihr Sohn
litt an Mukoviszidose. Auch er war hier, saß in einem Rollstuhl, den sein
Vater schob.
    »Dann stimmt es also?«, fragte ein Mann.
»Der Typ kann wirklich Wunder vollbringen?«
    »Gott kann das«, sagte ich im Vorübergehen. Ich legte dem Jungen eine Hand
auf die Stirn. »Heiliger Johannes von Gott, Schutzpatron der Kranken, ich bitte
dich um deine Fürsprache, möge der Herr diesem Jungen gnädig sein und ihn
wieder gesund machen. Ich bitte dich im Namen Jesu.«
    Nicht im Namen Shay Bournes, dachte ich.
    »Amen«, murmelten die Eltern.
    »Wenn Sie mich bitte entschuldigen«,
sagte ich und wandte mich ab.
    Shay Bourne war nicht Jesus, genauso
wenig, wie ich Gott war. Die Leute hier, diese falschen Gläubigen, kannten Shay
Bourne nicht -

Weitere Kostenlose Bücher