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Das Herz ihrer Tochter

Das Herz ihrer Tochter

Titel: Das Herz ihrer Tochter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jodi Picoult
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Gefängnis hatte ich
beides nie miteinander in Verbindung gebracht. Ich fragte mich, ob ich naiv
gewesen war oder ob ich unterbewusst versucht hatte, meine Tochter zu schützen.
    Es kostete mich meine ganze Kraft, dem
Priester ins Gesicht zu sehen. »Wie kommen Sie bloß darauf, ich würde wollen,
dass ein Teil von diesem Mann weiter auf der Erde herumspaziert, noch dazu in
der Brust meines Kindes?«
    »June - bitte, hören Sie doch erst mal
zu. Ich bin Shays Seelsorger. Ich rede mit ihm. Und ich denke, Sie sollten
auch mit ihm reden.«
    »Warum? Weil Sie Mitleid für einen Mörder
empfinden und deshalb Gewissensbisse haben? Weil Sie nachts kein Auge zutun
können?«
    »Weil ich glaube, dass ein guter Mensch
Schlechtes tun kann. Weil Gott vergibt und ich das auch tun muss.«
    Kennen Sie das Gefühl, wenn man kurz
davor ist zusammenzubrechen und die Welt einem in den Ohren hämmert - dieses
Rauschen des Blutes, diese Schwere? Kennen Sie das Gefühl, wenn die Wahrheit
einem die Zunge zerfetzt und man sie trotzdem aussprechen muss? »Er kann mir sagen,
was er will, es wird nichts ändern.«
    »Da haben Sie völlig recht«, sagte Father
Michael. »Aber vielleicht kann das, was Sie zu ihm sagen, etwas ändern.«
    Eine Variable hatte der Priester in
dieser Gleichung nicht berücksichtigt: Ich schuldete Shay Bourne nichts. Es
kam mir bereits vor wie ein zweiter quälender Tod, Abend für Abend die
Sendungen im Fernsehen zu sehen, die Stimmen der Leute zu hören, die vor dem
Gefängnis lagerten, die ihre behinderten Kinder und sterbenskranken Partner
mitgebracht hatten in der Hoffnung auf Heilung. Ihr Narren, hätte
ich ihnen am liebsten zugeschrien. Wißt
ihr denn nicht, dass er euch getäuscht hat, genau wie er mich getäuscht hat?
Wißt ihr denn nicht, dass er meinen geliebten Mann, mein kleines Mädchen
umgebracht hat? »Nennen Sie mir den
Namen von einem der Menschen, die John Wayne Gacey ermordet hat«, sagte ich.
    »Ich ... ich weiß keinen«, erwiderte
Father Michael.
    »Von einem der Opfer von Jeffrey Dahmer?«
    Er schüttelte den Kopf.
    »Aber an die Namen der beiden Serienmörder
erinnern Sie sich, stimmt's?«
    Er erhob sich von seinem Stuhl und kam
langsam auf mich zu. »June, Menschen können sich verändern.«
    Mein Mund zuckte. »Oh ja. Zum Beispiel
ein freundlicher obdachloser Zimmermann, der sich in einen Psychopathen verwandelt?«
    Oder ein silberhaariges feenhaftes
Mädchen, dessen Brust von einer Sekunde auf die andere blutrot anläuft. Oder
eine Mutter, die sich in eine Frau verwandelt, die sie nie für möglich gehalten
hätte: verbittert, leer, zerbrochen.
    Ich wusste, warum dieser Priester wollte,
dass ich mit Shay Bourne sprach. Ich wusste, was Jesus gesagt hatte: Vergelte nicht Gleiches mit Gleichem, vergelte mit Güte. Wenn einer
dir Unrecht tut, tue ihm Recht.
    Dazu kann ich nur sagen: Jesus musste nie
sein eigenes Kind zu Grabe tragen.
    Ich wandte mich ab, weil ich ihm nicht
die Genugtuung geben wollte, mich weinen zu sehen, doch er legte seinen Arm um
mich und führte mich zu einem Stuhl. Er reichte mir ein Papiertaschentuch. Und
dann sprach seine Stimme leise murmelnde Worte.
    »Heilige Felicitas, Patronin derer, die
den Tod eines Kindes erleiden mussten, ich erbitte deine Fürsprache, dass der
Herr dieser Frau helfen möge, Frieden zu finden ...«
    Mit mehr Kraft, als ich mir zugetraut
hätte, stieß ich ihn weg.
    »Wagen Sie es nicht«, sagte ich mit
zitternder Stimme. »Wagen Sie es nicht, für mich zu beten. Wenn Gott Sie
nämlich jetzt erhört, dann ist das gut elf Jahre zu spät.« Ich ging zum Kühlschrank,
den ein einzelnes Bild von Kurt und Elizabeth zierte, festgehalten von einem Magneten,
den Ciaire im Kindergarten gebastelt hatte. Ich hatte das Foto so oft betastet,
dass die Ränder abgegriffen waren, die Farbe in meine Finger gedrungen war.
»Nachdem die Sache passiert war, haben alle gesagt, Kurt und Elizabeth hätten
Frieden gefunden. Sie wären an einen besseren Ort gegangen. Aber wissen Sie
was? Sie sind nirgendwohin gegangen. Sie wurden genommen. Ich wurde beraubt.«
    »Geben Sie Gott nicht die Schuld, June«,
sagte Father Michael. »Er hat Ihnen Ihren Mann und Ihre Tochter nicht
genommen.«
    »Nein«, sagte ich tonlos. »Das war Shay
Bourne.« Ich blickte ihn kalt an. »Ich möchte, dass Sie jetzt gehen.«
    Ich brachte ihn zur Tür, weil ich nicht
wollte, dass er noch ein Wort mit Ciaire sprach, die über die Couchlehne lugte,
um zu sehen, was los war, aber klugerweise keinen

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