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Das Herz ihrer Tochter

Das Herz ihrer Tochter

Titel: Das Herz ihrer Tochter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jodi Picoult
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würden es mir sowieso nicht
glauben.“
    »Lassen wir's drauf ankommen.«
    Er warf einen Blick in Richtung Aufseher
und Schwester, um sich zu vergewissern, dass sie nicht lauschten. »Ich hab
ferngesehen, irgendwas Langweiliges über die Herstellung von irgendwelchen
Süßigkeiten. Und mir sind langsam die Augen zugefallen. Also bin ich
aufgestanden und wollte den Apparat ausmachen. Aber ehe ich den Knopf drücken
konnte, schoss das ganze Licht aus dem Fernseher in mich rein wie Strom. Ich
meine, ich konnte richtig spüren, wie sich all diese Dinger in meinem Blut
bewegt haben.«
    »Die Blutkörperchen?«
    »Ja, genau die. Jedenfalls, ich hatte das
Gefühl, als würde ich innerlich kochen, und meine Augen wurden zu Brei, und ich
wollte schreien, aber meine Zähne waren wie aneinandergeklebt, und dann bin ich
hier drin wach geworden und fühlte mich innerlich ausgetrocknet, wie
ausgesaugt.« Er verstummte.
    »Die Krankenschwester hat gesagt, Sie
hätten einen Krampfanfall gehabt. Können Sie sich noch an irgendwas anderes
erinnern?«
    »Ich weiß noch, was ich gedacht habe«,
sagte Shay. »So würde es sich anfühlen.“
    »Was?“
    »Sterben.«
    Ich holte tief Luft. »Wissen Sie noch,
wie das als Kind war, wenn man im Auto eingeschlafen ist? Und jemand hat einen
ins Bett getragen, und wenn man am nächsten Morgen aufgewacht ist, wusste man
sofort, dass man wieder zu Hause war? So stelle ich mir das Sterben vor.«
    »Das wäre schön«, sagte Shay, und seine
Stimme wurde tiefer, schläfrig. »Es wäre schön zu wissen, wie es sich anfühlt,
wenn man zu Hause ist.«
    Ein Satz, den ich erst vor einer Stunde
gelesen hatte, kam mir wieder in den Sinn: Das Königreich des Vaters ist ausgebreitet über die Erde, und die
Menschen sehen es nicht.
    Obwohl ich wusste, dass es nicht der
richtige Zeitpunkt war, obwohl ich wusste, dass ich eigentlich für Shay da sein
sollte statt umgekehrt, beugte ich mich näher zu ihm, bis meine Worte direkt in
sein Ohr dringen konnten. »Wo sind Sie auf das Thomasevangelium gestoßen?«,
flüsterte ich.
    Shay starrte mich ausdruckslos an.
»Thomas was?«, sagte er, und dann fielen ihm die Augen zu.
     
    Als ich vom Gefängnis wegfuhr, hörte ich
Father Walters Stimme: Sie
sind auf ihn reingefallen. Doch
als ich das Thomasevangelium erwähnt hatte, hatte ich in Shays Augen nicht das
leiseste Wiedererkennen aufflackern sehen, und er hatte unter Medikamenten
gestanden - es wäre furchtbar schwierig für ihn gewesen, weiter zu simulieren.
    Hatten sich so die Juden gefühlt, die
Jesus begegnet waren und in ihm wesentlich mehr erkannten als bloß einen
begabten Rabbi? Ich hatte keine Vergleichsmöglichkeit. Ich war katholisch aufgewachsen;
ich war Priester geworden. Ich konnte mich nicht entsinnen, je nicht geglaubt zu haben,
dass Jesus der Messias war.
    Aber ich kannte jemanden, der das konnte.
    Rabbi Bloom hatte keine Synagoge, weil
sie abgebrannt war, aber er hatte ganz in der Nähe der Schule, die als
Ersatzsynagoge diente, einen Büroraum gemietet. Ich wartete bereits vor der verschlossenen
Tür, als er kurz vor acht Uhr morgens eintraf.
    »Menschenskind«, sagte er angesichts des
Anblicks, der sich ihm bot - ein zerzauster Priester mit geröteten Augen, unter
einem Arm einen Motorradhelm und unter dem anderen die Nag-Hammadi-Texte. »Ich
hätte Ihnen das Buch auch länger als eine Nacht geliehen.«
    »Wieso glauben Juden nicht, dass Jesus
der Messias war?«
    Er schloss die Tür zu seinem Büro auf.
»Das dauert mindestens anderthalb Tassen Kaffee«, sagte Bloom. »Kommen Sie
rein.«
    Er setzte die Kaffeemaschine in Gang und
bot mir einen Platz an. Sein Büro sah ganz ähnlich aus wie das von Father
Walter in St. Catherine - einladend, gemütlich. Ein Raum, in dem man gern saß
und plauderte. Doch anders als Father Walter hatte Rabbi Bloom echte Pflanzen.
Father Walter hatte welche aus Plastik, ein Geschenk der Gemeindefrauen, weil
nicht einmal ein Kaktus bei ihm eine Überlebenschance hatte.
    »Das ist ein Gottesauge«, sagte der
Rabbi, als er sah, dass ich eine Topfpflanze begutachtete. »Maggies Sinn für
Humor.«
    »Ich komme gerade aus dem Gefängnis
zurück. Shay Bourne hatte wieder einen Krampfanfall.«
    »Haben Sie Maggie informiert?«
    »Noch nicht.« Ich sah ihn an. »Sie haben
meine Frage nicht beantwortet.«
    »Der Kaffee war noch nicht fertig.« Er
stand auf und goß uns jedem eine Tasse ein, gab Milch und Zucker in meinen,
ohne vorher zu fragen. »Juden glauben deshalb nicht,

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