Das Herz ist ein einsamer Jäger (German Edition)
Wandschrank und holte ein paar andere Bilder heraus, die sie gemacht hatte – ein paar Bleistiftzeichnungen, Aquarelle und ein richtiges Ölbild. Alle Bilder waren vollgestopft mit Menschen. Sie hatte sich einen großen Brand in der Broad Street vorgestellt und ihn so gemalt, wie sie ihn sich dachte. Die Flammen waren hellgrün und orange, und außer Mr. Brannons Restaurant und der Nationalbank stand kaum noch ein Gebäude. Manche Menschen lagen tot auf der Straße, andere rannten um ihr Leben. Ein Mann war im Nachthemd, und eine Dame schleppte sich mit einem Bündel Bananen ab. Ein anderes Bild hieß Kesselexplosion in der Fabrik: Da sprangen die Männer aus den Fenstern und rannten weg, während einige Kinder in einem Haufen zusammenstanden, in den Händen die Lunchpakete, die sie ihren Papis mitgebracht hatten. Auf dem Ölgemälde war die ganze Stadt auf der Broad Street in eine Schlägerei verwickelt. Sie wusste nicht, warum sie das Bild gemalt hatte, und sie hatte auch keinen guten Namen dafür gefunden. Auf dem Bild war kein Sturm, kein Feuer, überhaupt nichts zu sehen, was die Schlägerei erklären konnte. Aber es war ein größeres Menschengewühl darauf als auf allen anderen Bildern, und es war ihr bestes Bild. Zu dumm, dass ihr kein Name dafür einfiel. Irgendwo, ganz hinten in ihrem Kopf, musste er aber stecken.
Mick legte die Bilder in den Wandschrank zurück. Sie waren alle nicht viel wert. Die Menschen hatten keine Finger, und bei manchen waren die Arme länger als die Beine. Aber der Unterricht hatte Spaß gemacht. Obwohl sie einfach das zeichnete, was ihr gerade einfiel – und obwohl das Gefühl in ihrem Herzen längst nicht so groß war wie bei Musik. So gut wie Musik war einfach nichts anderes.
Mick kniete sich hin und hob rasch den Deckel von der großen Hutschachtel. Darin lag eine zerbrochene Ukulele, die mit zwei Violinsaiten, einer Gitarren- und einer Banjosaite bespannt war. Der Sprung im Boden der Ukulele war sauber mit Leukoplast verklebt, und das runde Loch in der Mitte war mit einem Stück Holz verdeckt. Ein Geigensteg hielt die Saiten hoch, und rechts und links davon waren Schalllöcher ausgeschnitten. Mick wollte sich eine Geige machen. Sie hielt die Geige auf dem Schoß und hatte das Gefühl, als hätte sie sie noch nie richtig angesehen. Vor einiger Zeit hatte sie aus einer Zigarrenkiste und Gummibändern eine Spielgeige für Bubber gemacht; so war sie auf diese Idee gekommen. Dann hatte sie sich die einzelnen Teile zusammengesucht und jeden Tag ein bisschen daran gearbeitet. Jetzt kam es ihr so vor, als hätte sie alles Mögliche dabei benutzt, nur nicht ihren Kopf.
»Bill, das sieht ja überhaupt nicht wie ’ne richtige Geige aus.«
Er las immer noch. »Ja-a?«
»Sie sieht einfach nicht richtig aus. Sie sieht einfach nicht…« Heute wollte sie eigentlich die Wirbel einschrauben und die Geige stimmen. Aber plötzlich wurde ihr klar, was bei all der Arbeit herausgekommen war; sie mochte sie gar nicht ansehen. Langsam zupfte sie an den Saiten. Alle gaben den gleichen, hohl schwingenden Ton.
»Und wo krieg ich überhaupt einen Bogen her? Glaubst du wirklich, dass er aus Pferdehaar sein muss?«
»Ja doch«, sagte Bill ungeduldig.
»Vielleicht kann man ja auch so was wie dünnen Draht oder Menschenhaar über einen biegsamen Stock spannen?« Bill rieb die Füße aneinander und antwortete nicht. Vor Wut traten ihr Schweißperlen auf die Stirn. Ihre Stimme war heiser. »Ist gar nicht mal so ’ne schlechte Geige. Ist halt was zwischen Mandoline und Ukulele. Und das kann ich nicht leiden. Ich kann das nicht leiden…«
Bill drehte sich um.
»Alles schiefgegangen. Das wird nichts. Hat keinen Zweck.«
»Reg dich ab«, sagte Bill. »Murkst du immer noch an der alten kaputten Ukulele rum? Hätt ich dir gleich sagen können: Du und ’ne Geige machen. So was macht man nicht einfach so selber – die muss man kaufen. Das weiß doch jedes Kind. Ich hab gedacht, schadet ja nix, irgendwann kommst du schon selbst drauf.«
Manchmal hasste sie Bill mehr als irgendeinen anderen Menschen. Früher war er ganz anders gewesen. Sie wollte die Geige schon auf den Boden werfen und darauf herumtrampeln, stattdessen knallte sie sie zurück in die Hutschachtel. Tränen brannten in ihren Augen wie Feuer. Sie gab der Schachtel einen Tritt und rannte, ohne Bill anzusehen, aus dem Zimmer.
Als sie durch die Diele zum Hinterhof schleichen wollte, lief sie ihrer Mama in die Arme.
»Was ist denn los
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