Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Herz ist ein einsamer Jäger (German Edition)

Das Herz ist ein einsamer Jäger (German Edition)

Titel: Das Herz ist ein einsamer Jäger (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carson McCullers
Vom Netzwerk:
vom Tisch auf, ging zur Tür und blieb dann stehen. Manchmal machte es Spaß, Portia zu piesacken. Immer fing sie mit derselben Leier an und sagte hundertmal dasselbe – als wüsste sie nichts anderes zu erzählen.
    »Leute wie du und mein Vater, die nicht in die Kirche gehn, können überhaupt keinen Frieden haben. Sieh mich doch an – ich hab meinen Glauben und meinen Frieden. Und Bubber, der hat auch seinen Frieden. Und mein Highboy und mein Willie genauso. Und mir scheint, bloß so vom Angucken, dieser Mr.   Singer hat auch seinen Frieden. Das hab ich gespürt, wie ich ihn das erste Mal gesehen hab.«
    »Mach, was du willst«, sagte Mick. »Du bist noch verrückter, als irgendein Vater sein kann.«
    »Aber du hast nie Gott geliebt und auch keinen Menschen. Du bist hart und zäh wie Rindsleder. Aber trotzdem – ich kenne dich. Heut Nachmittag wirst du wieder hier herumlaufen, als ob du was Verlorenes finden musst. Du machst dich ganz kaputt vor lauter Aufregung. Du wirst noch an Herzklopfen sterben, weil du niemand liebhast und keinen Frieden hast. Und eines Tags wirst du zerplatzen und kaputt sein. Und dann hilft dir nichts mehr.«
    »Sag doch mal, Portia«, fragte Bubber. »Was für Sachen isst denn der liebe Gott?«
    Mick lachte auf und stapfte aus der Küche.
    Sie strich wirklich den ganzen Nachmittag um das Haus herum, weil sie sich zu nichts entschließen konnte. Manche Tage waren eben so. Erstens quälte sie immer noch der Gedanke an die Geige. Nie würde sie eine richtige Geige zustande bringen – und nach all den Wochen der Vorbereitung wurde ihr nur von dem Gedanken ganz übel. Aber wieso war sie so sicher gewesen, dass aus dieser Idee etwas werden könnte? War sie so dumm? Wenn man sich so schrecklich nach etwas sehnte, klammerte man sich vielleicht an jede Möglichkeit, um es zu erreichen.
    Mick hatte keine Lust, zu ihrer Familie zu gehen. Sie hatte auch keine Lust, sich mit den Mietern zu unterhalten. Ihr blieb nur die Straße – aber dort brannte die Sonne zu heiß. Also ging sie ziellos in der Diele auf und ab und strich sich immer wieder mit der flachen Hand das zerzauste Haar zurück. »Verdammt«, sagte sie laut vor sich hin, »außer einem richtigen Klavier wär mein größter Wunsch ein Ort, wo ich ganz allein sein kann.«
    Diese Portia war zwar irgendwie verrückt wie alle Neger, aber ansonsten war sie in Ordnung. Nie würde sie mit Bubber oder Ralph hinterrücks was Gemeines machen wie andere farbige Mädchen. Aber Portia hatte gesagt, sie, Mick, liebe keinen Menschen. Mick hielt im Gehen inne, stand ganz still und rieb sich mit der Faust den Kopf. Was würde Portia denken, wenn sie Bescheid wüsste? Was würde sie bloß denken?
    Sie hatte immer alles für sich behalten. So viel stand fest.
    Mick ging langsam die Treppe hinauf. Sie ging über den ersten Treppenabsatz weiter zum zweiten. Zum Lüften standen einige Türen offen; von überall kamen Geräusche. Mick hielt auf der obersten Stufe an und setzte sich. Falls Miss Brown ihr Radio andrehte, würde sie die Musik hören. Vielleicht lief gerade etwas Gutes im Radio.
    Sie legte den Kopf auf die Knie und machte Knoten in die Schnürsenkel ihrer Tennisschuhe. Was würde Portia sagen, wenn sie wüsste, dass bei ihr immer einer den anderen abgelöst hatte? Und jedes Mal war es so, als wollte etwas in ihr in hundert Stücke springen.
    Aber sie hatte es immer für sich behalten. Nie hatte einer etwas davon erfahren.
    Mick saß lange auf den Stufen. Miss Brown stellte ihr Radio nicht an, nur die Geräusche der Leute im Haus waren zu hören.
    Sie dachte lange nach und bearbeitete dabei ihre Schenkel mit den Fäusten. Ihr Gesicht fühlte sich an, als würde es sich in einzelne Stücke auflösen, sie konnte es nicht zusammenhalten. Dieses Gefühl war viel schlimmer als der Hunger auf das Mittagessen; es war aber so ähnlich. Ich will – ich will – war alles, was sie denken konnte; aber was sie eigentlich wollte, das wusste sie nicht.
    Nach etwa einer Stunde hörte Mick, wie eine Tür geöffnet wurde. Sie blickte hastig auf: Mister Singer. Er stand ein paar Minuten in der Diele, seine Miene war ruhig und traurig. Dann ging er ins Badezimmer hinüber. Sein Besuch war nicht mit herausgekommen. Von ihrem Platz aus konnte sie einen Teil seines Zimmers sehen: Der Besuch lag schlafend auf dem Bett und hatte ein Laken über sich gezogen. Sie wartete, dass Mister Singer aus dem Badezimmer käme. Ihre Wangen waren sehr heiß, sie betastete sie mit den

Weitere Kostenlose Bücher