Das Herz ist ein einsamer Jäger (German Edition)
viele Runzeln. Er hatte denselben grünlich schimmernden schwarzen Anzug an, den er vor dreißig Jahren bei der Hochzeit seiner Tochter getragen hatte. Über seiner Weste baumelte die Kette seiner Taschenuhr aus stumpfem Messing. Karl Marx und Hamilton warfen sich einen Blick zu, schauten zu Boden und sahen schließlich ihren Vater an.
»Benedict Mady…«, sagte der alte Mann. »Es ist lange her. Wirklich – lange her.«
»Aber wirklich!«, sagte Portia. »Der erste Familientag seit vielen, vielen Jahren. Highboy, hol einen Stuhl aus der Küche. Vater, hier sind Buddy und Hamilton.«
Doktor Copeland reichte seinen Söhnen die Hand. Beide waren groß, kräftig und linkisch. Ihre Gesichter über den blauen Hemden und Overalls hatten den gleichen warmen Braunton wie Portias Haut. Sie sahen ihm nicht in die Augen; in ihren Gesichtern war weder Liebe noch Hass.
»Zu schade, dass nicht alle kommen können – Tante Sara und Jim und die andern alle«, sagte Highboy. »Aber das hier ist wirklich eine große Freude.«
»Wagen zu voll«, sagte eins der Kinder. »Wir mussten ’n ganzes Stück gehen, der Wagen war auch so schon zu voll.«
Großpapa kratzte sich mit einem Streichholz am Ohr. »Irgendwer muss halt immer zu Hause bleiben.«
Portia fuhr sich nervös mit der Zunge über die dunklen, schmalen Lippen. »Und Willie – ich muss an ihn denken. Er war immer ganz groß, wenn Gesellschaft oder sonst was los war. Will mir nicht aus dem Kopf – unser Willie.«
Im Zimmer war ein leises Murmeln der Zustimmung zu hören. Der alte Mann lehnte sich kopfwackelnd im Stuhl zurück. »Portia, mein Kind, willst du uns nicht ein bisschen vorlesen? Das Wort Gottes kann uns viel sagen in Zeiten der Not.«
Portia nahm die Bibel vom Tisch, der in der Mitte des Zimmers stand. »Welches Kapitel willst du hören, Großpapa?«
»Ist alles das Buch des Herrn. Irgendeine Stelle ist gut.«
Portia las aus dem Lukas-Evangelium. Sie las langsam und verfolgte die Zeilen mit ihrem langen Finger. Im Zimmer war es still. Doktor Copeland saß etwas abseits, knackte mit den Fingern und ließ den Blick umherschweifen. Die Luft war stickig in dem kleinen Zimmer. Die vier Wände waren mit Kalendern und grellbunten Zeitschriften-Inseraten gepflastert. Auf dem Kaminsims stand eine Vase mit roten Stoffrosen. Im Herd brannte ein schwaches Feuer, und das Licht der Petroleumlampe warf flackernde Schatten an die Wände. Portia las so schleppend, dass die Worte einschläfernd in Doktor Copelands Ohren tröpfelten; er fing an zu dösen. Karl Marx hatte sich neben den Kindern auf dem Boden ausgestreckt. Auch Hamilton und Highboy dösten vor sich hin. Nur der alte Mann schien über den Sinn der Worte nachzudenken.
Als das Kapitel zu Ende war, klappte Portia das Buch zu. »Ich hab an dieser Sache oft herumgegrübelt«, sagte Großpapa. Die Anwesenden erwachten aus ihrem Schlummer. »Was?«, fragte Portia.
»Das ist so. Du erinnerst dich an die Stellen, wo Jesus die Toten erweckt und die Kranken gesund macht?«
»Natürlich erinnern wir uns, Sir«, sagte Highboy ehrerbietig.
»Manchen Tag beim Pflügen oder Arbeiten«, sagte Großpapa langsam, »hab ich nachgedacht und gegrübelt über die Zeit, wenn Jesus wieder runterkommt auf die Erde. Ich hab mir das immer so sehr gewünscht, dass ich wirklich glaube, es wird geschehen, wenn ich noch lebe. Ich hab viel drüber nachgedacht, und ich stell mir das so vor: Ich werde vor Jesus stehen mit all meinen Kindern und Enkeln und Urenkeln und Verwandten und Freunden und werde zu Ihm sagen: ›Jesus Christus, wir alle sind traurige farbige Menschen.‹ Und dann wird Er Seine heilige Hand auf unsere Köpfe legen, und schon werden wir weiß sein wie Baumwolle. So hab ich mir das viele, viele Male in meinem Herzen vorgestellt.«
Im Zimmer war es still geworden. Doktor Copeland schob seine Manschetten zurück und räusperte sich. Sein Puls raste, und seine Kehle war wie zugeschnürt. Wütend saß er auf seinem einsamen Platz in der Ecke des Zimmers.
»Hat jemand von euch mal ein Zeichen vom Himmel empfangen?«, fragte Großpapa.
»Ja, Sir, ich«, sagte Highboy. »Einmal, wie ich krank war mit Lungenentzündung, da hat mich Gott aus dem Kamin heraus angeschaut. Ein großes weißes Gesicht mit einem weißen Bart und blauen Augen.«
»Ich hab mal einen Geist gesehn«, sagte eines der Kinder – das Mädchen.
»Ich hab mal…«, fing der kleine Junge an.
Großpapa hob die Hand. »Seid still, Kinder. Du, Delia, und
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