Das Herz ist ein einsamer Jäger (German Edition)
Schlafzimmer überfüllt. Er arbeitete den ganzen Tag und häufig die halbe Nacht. Er war so übermüdet, dass er sich manchmal am liebsten auf den Boden geworfen, mit den Fäusten um sich geschlagen und geweint hätte. Wenn er sich hätte schonen können, wäre er gesund geworden. Er hatte Lungentuberkulose; viermal am Tag maß er seine Temperatur, und einmal im Monat wurde er geröntgt. Aber er konnte sich nicht schonen; denn etwas anderes war größer als die Müdigkeit: das eine große, wahre Ziel.
An dieses Ziel dachte er. Nur manchmal, nach einem langen Tag und nach einer Nacht voller Arbeit wurde er innerlich ganz leer, so dass er für einen Moment vergaß, was dieses Ziel eigentlich war. Dann fiel es ihm wieder ein, und er gönnte sich keine Ruhe und fieberte immerfort nach neuen Aufgaben. Oft wollten ihm die Worte nicht über die Lippen kommen, und seine Stimme klang heiser und nicht so laut wie einst. Dann schleuderte er die Worte den kranken, geduldigen Negern – seinem Volk – förmlich ins Gesicht.
Er unterhielt sich häufig mit Mister Singer. Mit ihm sprach er über Chemie und über das Rätsel des Weltalls. Über den unendlich kleinen Samen und über die Spaltung der reifen Eizelle. Über die komplexe millionenfache Zellteilung. Über das Geheimnis der lebendigen Materie und über die Einfachheit des Todes. Auch über seine Rasse sprach er mit ihm.
»Mein Volk wurde von den weiten Ebenen und aus den dunklen, grünen Urwäldern weggeholt«, sagte er einmal zu Mister Singer. »Aneinandergekettet starben sie zu Tausenden auf dem langen Weg zur Küste. Nur die Starken blieben am Leben. Angekettet auf stinkenden Schiffen wurden sie hierhergebracht, und auch hier starben sie. Nur wer abgehärtet und willensstark war, überstand die Reise. Eine Herde Angeketteter und Verprügelter, die bündelweise verkauft wurden und von denen wieder die Schwächeren zugrunde gingen. So sind schließlich, durch all die bitteren Jahre hindurch, die Stärksten meines Volkes übriggeblieben. Ihre Söhne und Töchter, ihre Enkel und Urenkel.«
»Ich komm, um was zu borgen und dich um was zu bitten.« Mit diesen Worten kam Portia von der Diele her in die Küche, in der Doktor Copeland allein gesessen hatte.
Zwei Wochen waren seit Williams Verschickung vergangen. Portia hatte sich verändert. Ihr Haar war nicht eingeölt und gekämmt wie früher, und ihre Augen waren blutunterlaufen, als hätte sie viel getrunken. Mit den eingefallenen Wangen und dem besorgten Ausdruck auf ihrem honigfarbenen Gesicht ähnelte sie ihrer Mutter sehr.
»Du hast doch die hübschen weißen Teller und Tassen?«
»Du kannst sie nehmen und behalten.«
»Nein, ich will sie bloß borgen. Und dann wollte ich dich noch um was bitten.«
»Alles, was du willst«, sagte Doktor Copeland.
Portia setzte sich ihrem Vater gegenüber an den Tisch. »Zuerst will ich das erklären. Gestern kriege ich diesen Brief von Großpapa, dass sie alle morgen in die Stadt kommen und die Nacht und den halben Sonntag bei uns bleiben. Natürlich sorgen sie sich mächtig wegen Willie, und Großpapa findet, wir alle sollen wieder mal zusammen sein. Er hat recht. Ich möchte bestimmt all unsre Verwandten wiedersehen. Ich hab mächtig Heimweh, seit Willie weg ist.«
»Du kannst die Teller haben und alles andere, was du hier findest«, sagte Doktor Copeland. »Aber lass die Schultern nicht hängen. Du hast eine schlechte Haltung.«
»Wird ein richtiger Familientag. Das ist das erste Mal seit zwanzig Jahren, dass Großpapa über Nacht in der Stadt ist, weißt du. Er hat in seinem ganzen Leben bloß zweimal nicht zu Haus geschlafen. Und er ist nachts sowieso schon nervös. Wenn’s dunkel ist, muss er immerzu aufstehn und Wasser trinken und sehn, dass die Kinder zugedeckt sind und alles in Ordnung ist. Ich mach mir Sorgen, ob Großpapa sich hier auch wohl fühlt.«
»Wenn du etwas von meinen Sachen brauchen kannst…«
»Sie kommen ja mit Lee Jackson«, sagte Portia. »Und Lee Jackson braucht den ganzen Tag, bis er hier ist. Ich glaub nicht, dass sie viel früher kommen als zum Abendessen. Großpapa hat immer so viel Geduld mit Lee Jackson, dass er ihn nicht hetzen wird.«
»Meine Güte! Lebt der alte Esel immer noch? Er muss jetzt achtzehn Jahre alt sein.«
»Noch älter. Großpapa hat ihn jetzt zwanzig Jahre. Er hat ihn schon so lange, dass er immer sagt, Lee Jackson ist wie einer von der Familie. Er versteht und liebt Lee Jackson wie seine Enkel. Ich kenne keinen
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