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Das Herz ist ein einsamer Jäger (German Edition)

Das Herz ist ein einsamer Jäger (German Edition)

Titel: Das Herz ist ein einsamer Jäger (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carson McCullers
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du, Whitman – für euch ist jetzt Zeit zu hören und nicht zu sprechen. Nur einmal hab ich ein richtiges Zeichen gesehen. Und das kam so: Es war letztes Jahr im Sommer und sehr heiß. Ich wollte die Wurzeln von dem dicken Eichenstumpf am Schweinepferch ausgraben, und wie ich mich bück, da fühl ich es plötzlich in meinem Kreuz wie einen Stoß, einen Schmerz. Ich richte mich auf, und dann wird alles dunkel um mich. Ich halte meine Hand auf den Rücken und sehe zum Himmel auf – und da seh ich auf einmal das Engelchen. Ein Engelchen – ein weißes kleines Mädchen – sah mir nicht größer aus wie ’ne Erbse –, mit gelbem Haar und weißem Gewand. Flog immer so um die Sonne rum. Dann bin ich ins Haus gegangen und hab gebetet. Drei Tage hab ich in der Bibel gelesen, eh ich wieder aufs Feld gegangen bin.«
    Doktor Copeland fühlte wieder die schlimme Wut von früher in sich. Er wollte etwas sagen, aber die Wörter blieben unfertig in seiner Kehle stecken. Dem alten Mann hörten sie zu, aber sie hörten nicht auf die Stimme der Vernunft. Das ist mein Volk – sagte er sich; aber er war jetzt taub dafür, dieser Gedanke half ihm nichts. Mürrisch und angespannt saß er da.
    »Ist doch verrückt«, sagte Großpapa plötzlich. »Benedict Mady, du bist doch ein guter Doktor. Wie kommt’s, dass ich manchmal diese elenden Schmerzen im Kreuz hab, wenn ich lange grabe oder pflanze? Woher kommt diese Plage?«
    »Wie alt bist du jetzt?«
    »So zwischen siebzig und achtzig.«
    Der alte Mann begeisterte sich für Medikamente und ärztliche Behandlung. Immer wenn er früher mit der Familie in die Stadt gekommen war, um Daisy zu besuchen, hatte er sich von Doktor Copeland untersuchen lassen und für die ganze Familie Tabletten und Salben mitgenommen. Aber seit Daisy ihn verlassen hatte, kam der alte Mann nicht mehr zu ihm, und nun musste er sich mit Abführmitteln und Nierenpillen begnügen, die in der Zeitung angezeigt wurden. Der Alte sah ihn schüchtern bittend an.
    »Trink recht viel Wasser«, sagte Doktor Copeland. »Und schone dich, so viel du kannst.«
    Portia ging in die Küche, um das Abendessen vorzubereiten. Die Dämpfe drangen aus der Küche ins Zimmer. Die anderen plauderten, aber Doktor Copeland hörte nicht zu und beteiligte sich auch nicht am Gespräch. Dann und wann sah er Karl Marx oder Hamilton an. Karl Marx erzählte von Joe Louis. Hamilton redete hauptsächlich über den Hagel, der einen Teil der Ernte vernichtet hatte. Wenn sie dem Blick ihres Vaters begegneten, lächelten sie und scharrten mit den Füßen. Er fuhr fort, sie schmerzlich verärgert anzustarren.
    Doktor Copeland biss die Zähne fest zusammen. Er hatte so viel über Hamilton und Karl Marx nachgedacht, über William und Portia und über das eine, wahre Ziel, das er ihnen gesetzt hatte – und nun war er bei ihrem Anblick durchdrungen von einem düsteren Gefühl. Könnte er ihnen doch einmal alles sagen, angefangen von damals bis zu diesem Abend – das würde den brennenden Schmerz in seinem Herzen lindern. Aber sie würden nicht zuhören, sie würden ihn nicht verstehen.
    Er machte sich so hart, dass sich alle seine Muskeln verkrampften. Er hörte und sah nichts, was um ihn war. Er saß in seiner Ecke, als wäre er blind oder taub. Sie setzten sich zu Tisch, und der alte Mann sprach das Gebet. Aber Doktor Copeland aß nichts. Als Highboy eine Flasche Gin holte und sie unter Gelächter herumgehen ließ, lehnte er ebenfalls ab. Er saß in starrem Schweigen da; schließlich nahm er seinen Hut und ging, ohne sich zu verabschieden. Die ganze, reine Wahrheit hatte er ihnen sagen wollen – etwas anderes kam ihm nicht über die Lippen.
    Die Nacht verbrachte er in großer Anspannung und Unruhe. Der nächste Tag war ein Sonntag. Er machte ein halbes Dutzend Besuche und ging im Laufe des Vormittags zu Mister Singer. Das Gefühl der Einsamkeit wurde schwächer, und als er sich verabschiedete, war er wieder mit sich selbst im Reinen.
    Aber noch bevor er das Haus verließ, wurde sein Friede erneut gestört. Als er gerade die Treppe hinunterging, sah er einen Weißen mit einer großen Tüte heraufkommen. Er drückte sich ans Geländer, um ihn vorbeizulassen. Der weiße Mann sah jedoch weder rechts noch links und rannte die Treppe, immer zwei Stufen auf einmal nehmend, herauf. Sie stießen so heftig zusammen, dass es Doktor Copeland schlecht wurde und er nach Luft ringend stehen blieb.
    »Herrje! Hab Sie gar nicht gesehn.«
    Doktor Copeland schaute den

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