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Das Herz ist ein einsamer Jäger (German Edition)

Das Herz ist ein einsamer Jäger (German Edition)

Titel: Das Herz ist ein einsamer Jäger (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carson McCullers
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sie kennen und ging abends manchmal zu ihr. Sie redete mit mir. Verstehst du, das Wissen kam nicht mit einem Schlag. So ist das nämlich bei keinem von uns. So nach und nach kam’s. Ich fing an zu lesen. Ich arbeitete grad so viel, dass ich mir was beiseitelegen konnte und ’ne Weile blaumachen und studieren konnte. Das war so, als wenn man neu geboren würde. Nur wir Wissenden verstehn, was das bedeutet. Die Augen gehn einem auf, und plötzlich sieht man. Als käm man von weither aus dem Jenseits.«
    Singer nickte bestätigend. Im Zimmer war es anheimelnd gemütlich. Singer holte die Blechbüchse mit Keksen, Obst und Käse aus dem Schrank. Er nahm eine Orange und schälte sie langsam. Er zog jedes Hautfetzchen ab, bis die Frucht in der Sonne ganz durchsichtig war. Dann zerlegte er sie und teilte die Schnitze zwischen ihnen auf. Jake aß immer zwei Schnitze auf einmal und spuckte die Kerne geräuschvoll ins Feuer. Singer verzehrte seine Portion langsam und legte die Kerne ordentlich in die Hand. Sie machten noch zwei Flaschen Bier auf.
    »Wie viele von uns gibt’s wohl hier im Land? Vielleicht zehntausend. Vielleicht zwanzigtausend. Vielleicht noch mehr. Ich bin an so vielen Orten gewesen, aber ich hab kaum welche von uns getroffen. Aber nehmen wir mal an, einer ist ein Wissender. Dann sieht er die Welt, wie sie ist, und wenn er auf die Jahrtausende zurückblickt, dann sieht er, wie’s zu alldem gekommen ist. Er sieht, wie das Kapital und die Macht langsam eins wurden und heute auf ihrem Höhepunkt sind. Er sieht, was für ein Irrenhaus ganz Amerika ist. Er sieht, wie die Menschen an ihren Mitmenschen zu Räubern werden müssen, bloß um leben zu können. Er sieht Kinder verhungern und Frauen sechzig Stunden die Woche arbeiten, bloß um was zu essen zu haben. Er sieht das ganze verdammte Heer von Arbeitslosen und sieht, wie Milliarden von Dollars und Tausende von Meilen Land vergeudet werden. Er sieht den Krieg kommen. Er sieht, dass die Menschen vor lauter Leid gemein und hässlich werden und dass irgendwas in ihnen abstirbt. Vor allen Dingen aber sieht er, dass unser ganzes Weltsystem auf einer Lüge aufgebaut ist. Das ist doch alles sonnenklar – aber die Unwissenden haben so lange in dieser Lüge gelebt, dass sie sie einfach nicht mehr sehn.«
    Die rote Ader auf Jakes Stirn schwoll an vor Wut. Er griff nach dem Kohleneimer und ließ eine Kohlenlawine ins Feuer prasseln. Ein Fuß war ihm eingeschlafen, und er stampfte so fest auf, dass die Dielenbretter bebten.
    »Ich bin hier schon überall gewesen. Ich laufe rum. Ich rede. Ich versuch’s ihnen klarzumachen. Aber was hat das alles für ’nen Zweck? Herrgott noch mal!«
    Er starrte ins Feuer; sein Gesicht war vom Bier und der Hitze gerötet. Das Kribbeln in seinem Fuß zog jetzt das Bein hinauf. Schläfrig betrachtete er das Farbenspiel des Feuers: grüne, blaue und gelbe Flammen. »Du bist der Einzige«, sagte er träumerisch. »Der Einzige.«
    Er war kein Fremder mehr. Er kannte mittlerweile jede Straße in den vielen Elendsvierteln, jedes Gässchen und jeden Zaun. Er arbeitete immer noch bei der Sunny Dixie Show. Im Herbst zog der Rummel von einem freien Platz am Stadtrand zum nächsten, bis die ganze Peripherie abgegrast war. Die Plätze wechselten, aber im Grunde war es überall das Gleiche: ein von baufälligen Hütten umstandener Streifen Ödland, irgendwo in der Nähe eine Fabrik, ein Baumwoll-Egrenierwerk oder ein Abfüllbetrieb. Auch die Leute waren überall die gleichen: die meisten von ihnen Fabrikarbeiter und Neger. Abends war der Rummelplatz mit bunten Lämpchen beleuchtet. Die Holzpferde auf dem Karussell drehten sich beim Klang des Orchestrions im Kreis, die Schaukeln flogen durch die Luft, und beim Wurfspiel drängte sich die Menge. In zwei Buden gab es Getränke, saftig braune Bouletten und Zuckerwatte.
    Er war als Mechaniker angestellt worden, aber sein Aufgabenkreis war nach und nach größer geworden. Mit heiser bellender Stimme überschrie er den Lärm und tauchte bald bei dieser, bald bei jener Attraktion auf. Schweißperlen standen auf seiner Stirn, und nicht selten triefte sein Schnurrbart von Bier. Vor allem samstags musste er für Ordnung sorgen. Brutal schob er seinen festen, gedrungenen Körper durch die Menschenmassen. Nur seine Augen widersprachen seinem rücksichtslosen Verhalten. In sich gekehrt, abwesend blickten sie starr unter seiner mächtigen, finsteren Stirn hervor.
    Zwischen zwölf und ein Uhr nachts kam er nach

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