Das Herz ist ein einsamer Jäger (German Edition)
Menschen, der so gut die Gedanken von einem Tier versteht wie Großpapa. Er fühlt sich zu allem hingezogen, was kreucht und fleucht.«
»Zwanzig Jahre ist eine lange Zeit für einen Maulesel.«
»Ganz sicher. Jetzt ist Lee Jackson richtig schwach. Aber Großpapa kümmert sich bestimmt gut um ihn. Wenn sie draußen in der heißen Sonne pflügen, hat Lee Jackson einen großen, breiten Strohhut auf, genau wie Großpapa – mit Löchern für seine Ohren. Dieser Strohhut ist bei ihm richtig komisch. Lee Jackson macht keinen Schritt zum Pflügen ohne den Hut auf dem Kopf.« Doktor Copeland nahm das weiße Porzellangeschirr vom Regal und begann die einzelnen Teile in Zeitungspapier zu wickeln. »Hast du genügend Töpfe und Pfannen, um so viel Essen zu kochen?«
»Massenhaft«, sagte Portia. »Das macht mir kein Kopfzerbrechen. Großpapa denkt an alles – er bringt immer was mit, wenn die Familie zum Essen kommt. Ich muss nur viel Mehl haben und Kohl und zwei Pfund schönen Fisch.«
»Das klingt gut.«
Portia verschränkte ihre zittrigen gelben Finger. »Da ist noch etwas, das hab ich noch nicht erzählt. Eine Überraschung. Buddy wird auch hier sein und Hamilton. Buddy ist grad aus Mobile zurück. Er hilft jetzt auf der Farm mit.«
»Karl Marx habe ich schon fünf Jahre lang nicht gesehen.«
»Und deswegen wollte ich dich fragen«, sagte Portia. »Weißt du noch: Wie ich zur Tür reinkam, hab ich gesagt, ich will was borgen und dich um etwas bitten.«
Doktor Copeland knackte mit seinen Fingergelenken. »Ja.«
»Also, ich wollte fragen, ob du nicht auch morgen zum Familientag kommst. All deine Kinder sind da, bis auf Willie. Ich glaub, du solltest auch kommen. Ich würde mich auf jeden Fall sehr freuen.«
Hamilton, Karl Marx und Portia – und William. Doktor Copeland nahm die Brille ab und drückte die Finger an die Augenlider. Eine Minute lang sah er die vier ganz deutlich vor sich, so wie sie vor langer Zeit gewesen waren. Dann hob er den Kopf und setzte sich die Brille wieder auf. »Ich danke dir«, sagte er. »Ich werde kommen.«
An diesem Abend saß er allein, in Erinnerungen versunken, am Herd in der dunklen Küche. Er dachte an die Zeit seiner Kindheit zurück. Seine Mutter war als Sklavin geboren; als sie endlich frei war, wurde sie Wäscherin. Sein Vater war Prediger gewesen und hatte noch John Brown gekannt. Sie hatten dafür gesorgt, dass er etwas lernte, und hatten von ihren zwei oder drei Dollar Wochenlohn immer etwas zurückgelegt. Als er siebzehn war, hatten sie ihn mit achtzig Dollar, die er in einem Schuh versteckte, nach Norden geschickt. Er hatte bei einem Hufschmied und später als Kellner und Hotelpage gearbeitet. Und während der ganzen Zeit ging er zur Schule, las und studierte. Dann war sein Vater gestorben, und die Mutter hatte ihn nicht lange überlebt. Er aber hatte es nach zehn schweren Jahren zum Arzt gebracht. Er kannte seine Berufung und kehrte in den Süden zurück.
Er heiratete und ließ sich nieder. Unaufhörlich ging er von Haus zu Haus, seine Mission zu erfüllen und die Wahrheit zu verkünden. Das hoffnungslose Leiden seines Volkes machte ihn wütend – eine wilde, böse Zerstörungswut. Es gab Zeiten, da trank er starken Schnaps und schlug mit dem Kopf auf den Fußboden. In seinem Herzen war etwas Gewalttätiges; einmal nahm er den Schürhaken vom Herd und schlug seine Frau nieder. Sie ging mit Hamilton, Karl Marx, William und Portia zu ihrem Vater. Er rang mit sich und kämpfte das böse Schwarze nieder. Aber Daisy kam nicht zurück. Als sie acht Jahre später starb, waren seine Söhne keine Kinder mehr; auch sie kehrten nicht zu ihm zurück. Er war ein alter Mann, allein in einem leeren Haus.
Am nächsten Nachmittag stand er pünktlich um fünf Uhr vor dem Haus, in dem Portia und Highboy wohnten. Es lag im Stadtteil Sugar Hill. Ein enges Häuschen mit zwei Zimmern und einer Veranda. Drinnen hörte man Stimmen durcheinanderplappern. Doktor Copeland ging steifbeinig weiter und blieb, den schäbigen Filzhut in der Hand, in der Tür stehen.
Das Zimmer war voll von Menschen, die ihn zunächst nicht wahrnahmen. Er suchte die Gesichter von Karl Marx und Hamilton. Großpapa war auch da, und zwei Kinder saßen nebeneinander auf dem Fußboden. Er stand immer noch in der Tür und musterte die Gesichter seiner Söhne, als Portia ihn bemerkte.
»Da ist ja Vater«, sagte sie.
Das Gespräch verstummte. Großpapa drehte sich in seinem Stuhl um. Er war hager und krumm und hatte
Weitere Kostenlose Bücher