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Das Herz ist ein einsamer Jäger (German Edition)

Das Herz ist ein einsamer Jäger (German Edition)

Titel: Das Herz ist ein einsamer Jäger (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carson McCullers
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weißen Mann aufmerksam an, antwortete aber nicht. Den hatte er doch schon einmal gesehen. Der untersetzte, brutal wirkende Körper und die ungeschlachten Hände kamen ihm bekannt vor. Plötzlich erwachte sein medizinisches Interesse, und er entdeckte in den Augen des weißen Mannes den seltsam starren, verschlossenen Ausdruck eines Wahnsinnigen.
    »Verzeihung«, sagte der weiße Mann.
    Doktor Copeland stützte sich aufs Geländer und ging weiter.
    4
     
    »Wer war das?«, fragte Jake Blount. »Wer war der lange, dünne Farbige, der eben hier rauskam?«
    Das kleine Zimmer war blitzblank und aufgeräumt. Auf dem Tisch stand, von der Sonne beschienen, eine Schale mit purpurnen Trauben. Singer saß, die Hände in den Taschen, auf dem hintübergekippten Stuhl und sah zum Fenster hinaus.
    »Ich bin auf der Treppe mit ihm zusammengestoßen, und er hat mich angesehn, als… also, noch nie hat mich einer so dreckig angesehn.«
    Jake stellte den Papierbeutel mit den Bierflaschen auf den Tisch. Er schrak zusammen: Singer konnte gar nicht wissen, dass er im Zimmer war. Er ging zum Fenster und tippte Singer auf die Schulter.
    »Ich hab ihn nicht mit Absicht angerempelt. War kein Grund, sich so aufzuspielen.«
    Jake fröstelte. Trotz der strahlenden Sonne war es kühl im Zimmer. Singer hob den Zeigefinger, ging in die Diele hinaus und kehrte mit einem Eimer Kohlen und etwas Kleinholz zurück. Jake sah ihm zu: Singer kniete vor dem Ofen, zerbrach die Holzstücke säuberlich über dem Knie und legte sie auf die Papierschicht. Dann schüttete er nach bewährter Methode Kohlen auf. Zunächst wollte das Feuer nicht ziehen. Die schwächlich flackernden Flämmchen wurden von einer schwarzen Qualmwolke erstickt. Singer legte eine doppelte Schicht Zeitungspapier auf den Rost, so dass das Feuer wieder aufflammte. Mit einem heulenden Ton wurde das glühende Papier in den Schacht gesogen. Im Kamin knisterten gelbrote Flammen.
    Das erste Bier am Vormittag schmeckte schön milde. Rasch leerte Jake sein Glas und wischte sich mit dem Handrücken über den Mund.
    »Da hab ich mal ’ne Dame gekannt, ist schon lange her«, sagte er. »Irgendwie erinnerst du mich an die. Miss Clara hieß sie. Hatte ’ne kleine Farm in Texas und machte Pralinés, die sie in der Stadt verkaufte. Sah gut aus – ’ne große, üppige Dame. Trug immer so lange, bauschige Pullover und richtige Bauernschuhe und ’n Männerhut. Ihr Mann war schon tot, als ich sie kennenlernte. Aber was ich sagen wollte: Wenn die nicht gewesen wär, vielleicht wär ich dann nie ein Wissender geworden. Vielleicht wäre ich durchs Leben gegangen wie Millionen andre, die nicht wissen. Vielleicht wär ich einfach Prediger geworden oder Arbeiter oder Kaufmann. Mein ganzes Leben wär vergeudet gewesen.«
    Jake schüttelte verwundert den Kopf.
    »Um das richtig zu verstehn, musst du wissen, was davor war. Sieh mal, als Junge hab ich in Gastonia gelebt. Ich war ’n x-beiniger Zwerg, zu klein für die Fabrikarbeit. Da verdiente ich mir mein Essen als Balljunge auf einem Bowlingplatz. Dann hörte ich, wenn man fix und gescheit war, dann konnte man irgendwo in der Nähe mit Tabakblätter-Auffädeln dreißig Cent am Tag verdienen. Ich also hin und täglich dreißig Cent verdient. Da war ich zehn. Ich lief einfach von zu Hause weg. Geschrieben hab ich ihnen auch nicht. Die waren froh, dass ich weg war. Du weißt ja, wie das ist. Außerdem konnte bei uns zu Hause keiner lesen, bloß meine Schwester.«
    Er fuhr mit der Hand durch die Luft, als wollte er etwas von seinem Gesicht fortwischen. »Aber was ich sagen wollte: Zuerst hab ich an Jesus geglaubt. Da war einer, der arbeitete mit mir im selben Schuppen. Der hatte so ’ne Art Zelt und hielt da jeden Abend ’ne Predigt. Ich ging hin und hörte zu und glaubte dran. Den ganzen Tag hatte ich nichts wie Jesus im Kopf. In meiner Freizeit las ich in der Bibel und betete. Eines Abends nahm ich ’nen Hammer und legte meine Hand auf den Tisch. Ich hatte ’ne Riesenwut im Bauch und trieb den Nagel durch und durch und nagelte meine Hand am Tisch fest. Und ich sah mir das an, wie die Finger zitterten und blau wurden…«
    Jake hielt seine Handfläche hin und deutete auf die gezackte, schneeweiße Narbe.
    »Ich wollte ’n Prediger werden. Ich wollte rumreisen und predigen und Leute bekehren. Ich zog von einem Ort zum andern, und als ich so zwanzig war, kam ich nach Texas. Ich arbeitete in einer Pekannuss-Plantage ganz nah bei Miss Claras Farm. Da lernte ich

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