Das Herz ist eine miese Gegend
schmatzte und sah ihn mit ihren dunklen Augen an.
Jetzt, da nur sie beide im Zimmer waren, schien sie kein bißchen unsicher, saß bequem neben seinen Beinen. Ihre Wolljacke hatte sie ausgezogen und über das Bettgestell geworfen.
»Liegst du allein hier?«
»Einer ist noch da, aber der ist grad weg.«
Sie lachte, obwohl er gar nicht hatte witzig sein wollen. Sie erzählte, daß sie im August sechzehn werde, daß sie aufs Wildermuth-Gymnasium gehe, daß sie eine Schwester habe, mit der sie nichts anfange, daß ihre Eltern sich scheiden lassen wollten und sie bei ihrem Vater bleibe, daß sie in der Landhausstraße wohne und Giovanni sie besuchen kommen könne.
Sechzehn! Er fand es unglaublich, daß sie schon so alt war. Da er selbst erst fünfzehn war, schien ihm sechzehn unendlich weit entfernt und außerdem, was Mädchen anbetraf, eine magische Grenze darzustellen. Die Mädchen mit sechzehn mußten so sein wie Marie Claire. Die taten es.
Aber Laura sah gar nicht aus wie ein Mädchen, das es tut. Sie benahm sich so natürlich, daß Giovanni sie gar nicht richtig mädchenhaft finden konnte. Dazu war sie zu normal. Die in der Klasse wurden immer kicheriger. Sie schienen an der Tatsache, daß jemand kein Mädchen war, einen Heidenspaß zu haben, und es wurde zunehmend unerfreulich und seltsam, mit einer von ihnen zu reden.
Mit Laura war alles so einfach, daß es Giovanni nicht einfiel, verlegen zu sein. Als wären sie Freunde seit Jahren und hätten einander die geheimen Dinge schon verraten, redeten sie über Alltägliches wie die Schule, ihre Eltern und Geschwister, Bo und Musik.
»Ich hätte eigentlich gerade Turnen«, sagte Laura, »aber ich schwänze. Hab keine Lust mehr.«
»Turnst du nicht gern?« fragte Giovanni.
»Doch, jedenfalls hab ich gute Noten. Aber die Jungs zielen mit den Bällen auf meine Brüste, und das stinkt mir.«
Und auf einmal war die ganze Normalität verflogen. Das Wort »Brüste« entrückte sie auf einen Schlag, machte sie fraulich und ihn schüchtern. Unter der Decke regte sich was, denn allein die Vorstellung von Brüsten direkt neben ihm genügte, um das Gefühl, das ihm nunmehr ein gewohnter Besuch war, zu wecken.
»Sind eigentlich keine Brüste«, sagte sie unbekümmert in sein Schweigen, »eher zwei Wespenstiche.« Und nach einiger Zeit, in der er nichts tat, als schweigend aus dem Fenster zu sehen: »Was ist denn jetzt los?«
»Sie sind sicher ganz in Ordnung«, sagte er im Duett mit dem Frosch in seinem Hals. Es kam ein bißchen leise und wacklig daher. Das Wort »Brüste« auszusprechen war ihm unmöglich. Bis eben hatte das noch »Busen« geheißen. Ein Wort für zwei Dinger. Das klang noch sehr nach einer fest verschlossenen Sache. Daß sie »Brüste« sagte, zeigte diese beiden Dinger deutlicher her, als wenn sie den Pullover hochgezogen hätte. Vermutlich jedenfalls.
Noch dröhnte das Wort in seinem Kopf mit hundert Echos, so geheim, erregend und neu, wie es für ihn war.
»Sie sind mir wurscht.«, antwortete sie.
Ilse war ein Junge mit einem großen Traum. Dieser Traum war sein wichtigstes Merkmal. Und sein rotblonder Haarschopf das hervorstechendste. Die Superlative »hervorstechendst« und »wichtigst« waren in diesem Falle zwar nicht angebracht, da keine weniger hervorstechenden und wichtigen Merkmale hinterherkamen, aber weil für Ilse die Vorstellung, überhaupt nur zwei zu haben, unerträglich war, hatte er diesen durch die Bezeichnungen »wichtigst« und »hervorstechendst« einen künstlichen Schweif angedichtet. Sein großer Traum wechselte Farbe, Form und Inhalt in kurzen Intervallen, dauerte manchmal gerade ein, zwei Tage, aber was nicht wechselte, waren Thema und Besetzung. Die Besetzung war er selbst und das Thema: Er käme ganz groß raus. Er unterschiede sich von allen anderen, würde von ihnen angestaunt, verehrt, befragt, wie er das denn schaffe, was er tue, kurz, er wäre ein Star.
Die ersten Anfänge hatten noch bestanden aus »Feuerwehrhauptmann, der die schöne Frau aus dem brennenden Haus rettet«, »Detektiv, der der schönen Frau das gestohlene Collier zurückbringt«, und »Bergführer, der die schöne Frau im letzten Moment vor dem Sturz in die Schlucht bewahrt«. Mittlerweile aber waren die Figuren zeitgemäßer und der Katastrophenbezug geringer geworden. Jetzt war er meistens auf dem Schulweg oder bis zum Einschlafen der gefeierte Maler, der, zurückgezogen, weltabgewandt und oberflächlicher Zerstreuung abhold, in seinem Atelier
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