Das Herz ist eine miese Gegend
Ruelle des Prunes zu finden stellte sich als fast unmöglich heraus, er bekam jede Frage danach mit einem Schulterzucken beantwortet. Einen Polizisten anzusprechen, wagte er nicht, und so fragte er bald nur die älteren Leute. Er dachte, die müßten ihre Stadt am besten kennen. Aber er irrte noch lange von Frage zu Frage, bis ein Kind an der Hand einer Oma sagte: »Toute droite lavenue la, et demandez encore dans la place du quattorze juillet.«
Als er endlich vor dem Haus stand, lag die ganze Umgebung mit den kleinen, efeuumwachsenen Häusern, den Hecken und Gärten in abendlicher Ruhe, und das Klappern von Geschirr und Gläsern, die Stimmen von Veranden und Balkons spielten eine sparsame Melodie zum brummenden Bordun einer entfernten großen Straße.
Nummer dreiundzwanzig stand in einem verwilderten Garten. Ein zweistöckiges altes Haus mit drei Veranden und einer kleinen steinernen Treppe zur Tür. Am Gartentor gab es keine Klingel, also öffnete Giovanni und ging hinein. »Muller« stand auf einem kleinen Schild, das war der Name auf den Briefen. »Laura Ohlenburg chez Muller«, hatte Giovanni die Fahrt über wie ein Lied in seinem Kopf gehört, »Ruelle des Prunes vingt-trois, Aix-en-Provence, France«. Niemand war zu Hause.
Nach dem fünften Klingeln setzte er sich auf die Bank neben der Treppe. Das Haus, der Garten und die Gewißheit, daß Laura und ihr Vater hier wohnten, ließen es Giovanni ganz selbstverständlich erscheinen, hier zu warten und nicht auf der Straße. Bitte kommt nach Hause, dachte er, endlich bin ich hier.
Irgendwann - der Raum um die Geräusche in der Nachbarschaft schien sich zu vergrößern, und Giovanni vergaß die Zeit, obwohl er sich nach Schritten oder Autogeräuschen sehnte - da sprang ein Kätzchen auf seinen Schoß, und er erschrak, so ruhig und gelöst hatte er gesessen.
Das Kätzchen war hellgrau getigert, hatte lustige weiße Ränder um die Augen und kleine Pinselchen auf den Spitzen seiner Ohren. Es zitterte wohlig mit der Schwanzspitze, schnupperte an Giovannis Nase, da er den Kopf zu ihm gebeugt hatte, und schnurrte wie eine kleine, warme Nähmaschine. Plumps, knickte es die Beinchen und ließ den leichten Körper fallen, rollte sich ein und schnurrte und schnurrte.
»Bonjour, kleiner Luchs«, sagte Giovanni, »du bist aber ein süßer Fratz« und legte die Beine auf die Bank, um sich seitlich anzulehnen.
Er wachte auf, weil eine Hand sanft an seine Schulter rührte.
»Qu’est-ce que il y a?« fragte eine Stimme, weit weniger sanft als die Hand. Das Kätzchen lag noch immer zusammengeringelt auf ihm, und er drehte den Kopf nach oben. Da standen ein grauhaariger Mann und eine Dame, beide fein angezogen, als kämen sie von einem Ball. Wohl wegen des Kätzchens in seinem Schoß und vielleicht auch wegen des Anblicks, den er schlafend geboten haben mußte, schauten beide freundlich auf ihn herab und warteten geduldig, bis er endlich »Excusez moi, je cherche les Ohlenburgs« herausgebracht hatte.
»Ohlenburg?« lachte die Dame und deutete mit der Hand am Haus vorbei. »C’est là. En arrière.«
Und als er das Kätzchen vom Schoß nahm und neben sich stellte, um aufzustehen, sagte der Mann auf deutsch »Hinterhaus«. Es klang wie Inter-Aus. Giovanni hatte am falschen Platz gewartet. So kurz vor Laura, vielleicht zwanzig Meter entfernt von ihr.
Sie zeigten ihm den Weg, das Haus lag tatsächlich nur wenige Meter hinter dem andern im Garten. Es dämmerte, und in einigen Fenstern war Licht. Giovanni rief Lauras und Herrn Ohlenburgs Namen, und zwei Köpfe erhoben sich über die Brüstung einer kleinen Terrasse.
»Merci«, rief er dem wartenden Paar zu, und die beiden winkten und verschwanden um die Ecke. Als er auf die Terrasse zulief, sah er das Kätzchen, das ihn mit fröhlich gebogenem Schwanz überholte und beim Laufen beide Vorderbeine zugleich in die Luft warf.
»Giovanni«, rief jetzt Laura und kletterte über die Brüstung. Als er vor ihr stand und sich gleich darauf in ihren Armen spürte, bemerkte er gleichzeitig, wie gut sie roch und daß er diesen Geruch vergessen hatte. Und daß ihm Tränen aus den Augen liefen.
»Kommt rein«, sagte Herr Ohlenburg, der neben ihnen aufgetaucht war. Er legte seinen Arm um beide und schob sie sanft in Richtung Tür.
Mit Laura hinter sich und ihrer Hand auf seiner Schulter fiel es Giovanni überraschend leicht, die Verzweiflung zu erklären, die eben, gleichzeitig mit Lauras erlösendem Geruch, wieder wie ein Sandsack
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