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Das Herz ist eine miese Gegend

Das Herz ist eine miese Gegend

Titel: Das Herz ist eine miese Gegend Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thommie Bayer
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Giovanni schlug es auf und starrte auf das Bild darin. Nackte Frauen standen da in einer Reihe, andere zogen sich aus, und wieder andere lagen in einem riesigen Graben. Zwischen den Frauen Männer in derselben Uniform. Manche dieser Männer lachten. Giovanni verstand, was er sah. Das Buch hieß »Der gelbe Stern«. Giovanni war sechs Jahre alt.
    Das Fotoalbum schob er achtsam ins Regal, holte sein Geld aus der Schublade, schrieb Norbert einen Zettel
    - Bin in einer Woche zurück, keine Aufregung, Giovanni
    - und schloß alle Fenster und Türen. Als er den Parka vom Haken nahm, wurde ihm zum ersten Mal bewußt, daß auch dies eine Uniformjacke war. Er ging noch einmal in sein Zimmer, um das Taschenmesser aus der Schublade zu nehmen. Man konnte nie wissen. Zelko, der längst vergessene Mäusebesuch aus dem Totenreich, fiel ihm ein. Er ertappte sich bei dem Gedanken, daß er die Maus jetzt gern bei sich trüge. Lebend. Als einen Freund, für den er da wäre, der sich auf ihn verlassen könnte. Blindlings.
    Vier Stunden und sechzehn Autos später war er schon an der Grenze zu Frankreich. Der Beamte sah ihn zwar prüfend an, sagte aber nichts. In diesen Tagen trampten viele durch die Welt, und er war sicher nicht der erste Fünfzehnjährige. Der Wagen, in dem er saß, fuhr bis Belfort.
    Seit der Grenze hatte Giovanni neben dem Fahrer, einem Soldaten, der nach Hause fuhr, geschwiegen. Der nahm es nicht übel, drehte das Radio lauter und sang manche Zeilen der Lieder mit.
    Es ist vielleicht derselbe Weg, dachte Giovanni immer wieder, vielleicht genau derselbe Weg. An den Straßenrändern meinte er die Spuren des Krieges noch sehen zu können. Hier ein Reifenabdruck im Lehm und dort eine Kettenspur. Panzer oder Planierraupe? Die Straße konnte genauso ausgesehen haben. Es ist vielleicht genau dasselbe Bild, dachte er, nur daß ich fahre, und Papa muß marschiert sein. Er sah Armeelastwagen, Panzer und marschierende Soldaten, halb durchsichtig, wie aus trübem Glas, und er dachte, die Panzer sind Schrott, die Soldaten sind tot.
    In Belfort aß er zwei Croissants und staunte über sein ausreichendes Französisch. Nach zwei Stunden nahm ihn ein elsässischer Lastwagen mit bis Besançon. Er verstand kein Wort, obwohl der Fahrer eine Art Deutsch sprach.
    Durch Besançon ging er, immer den Schildern nach, eine Stunde lang zu Fuß, und es wurde kalt und begann zu regnen. Gott sei Dank hatte er den Parka mitgenommen. Er stand am Straßenrand im Kies, bis es dunkel wurde. Er hätte heulen können. Nur der Gedanke an Laura und sein Stolz hielten ihn davon ab.
    Ihn fror, er wurde naß und hatte Angst. Die sich nähernden Autoscheinwerfer waren plötzlich keine Hoffnung mehr, sondern gelbe gefährliche Augen. Auf einmal war das Vorbeifahren der Wagen mit Erleichterung verbunden. Er ging zurück in die Stadt.
    Weltläufig, erwachsen und souverän wollte er sich fühlen, als er ohne Probleme ein Hotelzimmer bekam, aber ihm war nur noch kläglich zumute. Er horchte auf die Geräusche außerhalb des Zimmers, das Knacken und Scharren im Flur, die Stimmen mit der fremden Melodie zwei Stockwerke tiefer und den unentzifferbaren Lärm von draußen.
     
    Erst daran, daß er morgens aufwachte und sich nicht an die letzten Stunden erinnern konnte, merkte er, daß er geschlafen haben mußte. Sein Schlaf war so hell und alarmiert gewesen, daß er in seinen Träumen geglaubt hatte, wach zu liegen.
    Nach fünf Stunden am Straßenrand gab er auf und ging zum Bahnhof. Seine Wut auf die Franzosen, von denen keiner angehalten hatte, verflog, als er dachte: vielleicht wissen die, daß ich ein Deutscher bin. Aber es war Tag, die Sonne schien, nichts wirkte bedrohlich, und das gestern noch fehlende Gefühl von Souveränität und Weltläufigkeit schien heute morgen mit dem Milchkaffee in sein Inneres geflossen zu sein. Seit dem Frühstück jedenfalls war es da. Aus dem Zugfenster sah er jetzt eine farbige, lebende, heitere Welt ganz ohne gläserne Marschkolonnen und Panzer.
    Später, entlang der Rhône, sah er Stellen am andern Ufer, die dem Platz aus dem Lied von Suzanne glichen. Er wurde immer aufgeregter, je weiter die Fahrt nach Süden ging. Etwas wie Jubel sprang in ihm herum, und er ging alle paar Minuten auf den Gang hinaus, um nur nicht sitzen bleiben zu müssen.
    Aix-en-Provence schließlich lag da wie die Erfüllung eines langgehegten Wunsches, obwohl um den Bahnhof eine triste, staubige Stimmung war. Ich bin da, dachte er, kurz vor Laura.
     
    Die

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