Das Herz ist eine miese Gegend
ihm unmöglich, und doch geschah es nach wenigen Minuten. Wie ein Strudel sog ihn der Schlaf in sich ein, und Lauras Geruch war ein dunkler Trost, der ihn erlöste.
Morgens erwachte er davon, daß er etwas Weiches, Warmes und Schnurrendes auf seinem Hals spürte. Freddie lag, die Pfötchen auf Giovannis Kinn, den Kopf auf seinem Ohr, um ihn gewickelt wie ein Schal. Es klapperte im Haus, durchs Fenster kam helles Gezwitscher, und irgendwann steckte Laura den Kopf durch die Tür und sagte: »Frühstück.«
Er zog die Hose an und ging ins große Zimmer, um ein frisches Hemd aus seiner Tasche zu holen. Noch unrasiert saß Herr Ohlenburg und sah in das Buch, als hätte er die ganze Nacht gelesen.
»Guten Morgen«, sagte Giovanni.
»Morgen«, sagte Lauras Vater.
Und als Giovanni ins Bad gehen wollte, schlug der Vater das Buch zu und sagte: »Ich heiße Paul.«
»Ich eigentlich auch«, sagte Giovanni.
An dem Geschmack in seinem Mund merkte er, daß er sich gestern abend nicht einmal mehr die Zähne geputzt hatte. Jetzt bürstete er, um aufzuholen, doppelt so lange in seinem Mund herum, dann half er Laura, Teller und Besteck ins Zimmer zu tragen, und der Kaffee roch so, wie das Vogelzwitschern klang.
Giovanni wusch Geschirr, und Paul trocknete ab, als er sagte: »Ich war auch im Krieg.«
Giovanni schwieg. Er wußte darauf nichts zu antworten.
»Ich habe Menschen getötet, viele.«
Seltsam, Giovanni hatte tatsächlich geglaubt, Paul wäre nicht dabeigewesen. Wie dumm von ihm, kein Deutscher dieses Alters konnte verschont geblieben sein.
»Versteh mich recht, Giovanni«, fuhr Paul fort, »es geht nicht darum, mich zu entschuldigen, du bist nicht mein Richter, und ich möchte kein Geständnis ablegen«, er nahm sich eine Zigarette aus der Schachtel und zündete sie an, »und es geht nicht darum, so zu tun, als sei es nicht so schlimm gewesen. Ich will dir nur sagen: Wir haben keine Wahl. Wir können uns nicht mehr entscheiden. Das, was war, geht nie mehr weg.«
Er sah aus dem Fenster und sog tief den Rauch der Zigarette ein.
»Haben Sie gelacht?« fragte Giovanni, ohne in Pauls Richtung zu sehen.
»Mein Gott, nein.« Pauls Stimme war jetzt leise, und noch leiser, mit brüchigem Ton, fügte er hinzu: »Ich hoffe nicht.«
Giovanni schluckte. Er schämte sich für die inquisitorische Frage, schämte sich, dieses Mannes Stimme brüchig gemacht zu haben, und wußte, das, was er schluckte, war so etwas wie Mitleid. Mit Paul, der nicht mehr davonrennen, der sich nicht mehr gegen seine Schuld entscheiden konnte und der vor einem ahnungslosen Jungen den Mut hatte zu sagen »Ich hoffe nicht.«
»Es tut mir leid«, sagte er, »ich hab kein Recht dazu.«
»Du hast kein Recht, von da, wo ich stehe, aber du mußt fragen, von da, wo du stehst«, sagte Paul. Er stippte die Zigarette ins Spülwasser und warf sie in den Abfalleimer.
Nach einer Weile, in der sie sich auf ihre Handgriffe konzentrierten, als müßten Abwaschen, Trocknen und Einräumen des Geschirrs unter Zeitdruck und mit großem Ehrgeiz erledigt werden, sagte Paul: »Du hast gestern was gesagt, worüber ich nachgedacht habe. Du hast gesagt >Ich sehe ihm ähnliche Was hast du damit gemeint?«
»Ich weiß nicht«, sagte Giovanni, obwohl er das Gefühl hatte, er wisse es fast. Am Ton seiner Stimme hörte er, daß die Antwort deshalb auch fast eine Lüge war, und sagte: »Ich weiß es fast.«
Er sah, daß Paul antworten wollte, und hörte gleichzeitig, wie die Haustür geöffnet wurde. Paul legt den Finger an die Lippen und sagte: »Nicht vor Laura.«
Sie fuhren ans Meer in demselben Citroën, der ihn damals ins Krankenhaus geschaukelt hatte. Durch Lauras gute Laune waren sie bald aus ihrer angespannten Stimmung geholt worden, und Giovanni dachte, zu reden ist schon die halbe Rettung, obwohl es dadurch noch wahrer wird.
Er mußte lachen, als ihm einfiel, daß nichts wahrer werden kann, es kann nur wahr sein oder nicht. Aber er verriet nicht, worüber er gelacht hatte, als Laura danach fragte.
»Geheim«, sagte er und fühlte sich Paul, der sie gemächlich nach Süden steuerte, verbunden.
»Kuck weg«, sagte Laura und hielt ihre Hand vor seine Augen, als er in Nizza nackte Frauenbrüste sah. Und ihre Hand vor seinen Augen war nicht nur eine Entschädigung für den Anblick, sondern fühlte sich viel besser an. Da er zu Hause vergessen hatte, eine Badehose einzupacken, gingen sie nicht schwimmen, sondern spazierten die Uferpromenade entlang zum Hafen.
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