Das Herz ist eine miese Gegend
hatte, stimmte auch. Er lebte von ihren Briefen.
Bo durfte in den Ferien nicht nach Hause kommen. Ein Internatslehrer hatte sich angeboten, ihm Unterricht zu geben, damit er den Anschluß an die Klasse schaffte. Ilse mußte tagsüber in der Malerwerkstatt seines Vaters helfen und war nur abends nach dem Essen frei, um sich mit Giovanni kostenlose Filme anzusehen.
Mittlerweile hatten beide so lange Haare, daß man sie in den Jazzkeller ließ, eine Kneipe, deren Name insofern überholt war, als dort ausschließlich Beatmusik lief. Die Beatmusik würde später einmal »Rockmusik« heißen. Ilse war in seinem Traum kein Maler mehr, sondern trainierte inzwischen auf Sänger. Progressive Musik würde er machen. Er hatte nämlich bei sich, vor allem, was die Breite seiner Lippen betraf, eine Ähnlichkeit mit Mick Jagger entdeckt, hatte die ganze Sammlung kaputter Puppen, die er für seine Collagen gehortet hatte, auf den Speicher gebracht und sich fortan in der Nähe aktiver Musiker herumgetrieben. Irgendwann würde er schon entdeckt werden. Spätestens wenn der Sänger bei einem wichtigen Auftritt plötzlich krank würde. Dem könnte man sogar ein bißchen nachhelfen. Er machte sich nützlich, half beim Tragen der Instrumente und beim Aufbau der Anlagen, tanzte exzessiv vor der Bühne und rannte, wenn der Sänger sein Mikro umkickte, sofort hin, um es wieder aufzustellen. Die Bands waren begeistert, einen Roadie zu haben, denn das war ein Statussymbol. Ilses Talent, Kleinteile ohne Belastung der Bandkassen aufzutreiben, tat ein übriges, ihn beliebt und unentbehrlich zu machen. Außerdem wurde er hübsch. Und seine Haarfarbe und der seltsame Name verliehen ihm etwas Exotisches.
Giovanni allerdings ging er mit seinem pseudoenglischen Gegröle auf die Nerven. Und »Suzanne« war nicht progressiv und deshalb für Ilse indiskutabel. Progressive Musik erkannte man daran, daß die Gitarren verzerrt waren, jeder Musiker in jedem Stück ein langes Solo spielte und die Haarlänge auf keinen Fall von Erwachsenen akzeptiert werden konnte. Selbstverständlich gab es auch keine Geigen in progressiver Musik.
Durch Ilse kam Giovanni in fast jedes Konzert. Dort gefiel ihm jedoch die Atmosphäre meist besser als die Musik. Er stellte sich in eine Ecke, schaute Ilse beim Tanzen zu, ließ seinen Blick schweifen, genoß den Geruch der tanzenden Mädchen, und irgendwann gelang es ihm, alles schwarzweiß zu sehen und inmitten der Tanzenden Laura in Farbe. Es war meist nur eine Frage der Geduld. Er mußte nur lange genug an sie denken, mußte nur genügend Konzentration aufbringen, um es zu schaffen, daß Laura gegen die Wirklichkeit siegte.
Er schrieb ihr nach Südfrankreich: »Ich sehe Dich nackt. Bist Du einverstanden?«
Sie antwortete: »Wir werden Deine Bilder überprüfen. Vielleicht im Winter. Da ist Nacktsein was Besonderes.«
Und Giovanni hatte zum ersten Mal in seinem Leben einen Grund, sich auf den Winter zu freuen.
Er vermißte Bo, vermißte dessen Beweglichkeit, vermißte das Abenteuer und die unberechenbaren Ausbrüche. Die Klauereien mit Ilse hatten bald nur noch den Vorteil gehabt, daß man zu Dingen kam, die man sich nicht leisten konnte. Die Angst, die man dabei ausstand, wich immer nur einer Erlösung, nie folgte Befriedigung. Es war nichts Tolles, mit französischen Fünfzig-Centime-Stücken Zigaretten aus Automaten zu ziehen. Es war nichts Tolles, daß die Centimes, weil sie ungültig waren, nur zehn Pfennig kosteten, daß die Zigaretten beim Verkauf auf dem Schulhof eine Mark pro Schachtel brachten und daß, hatte man einen Automaten erst mal leergeräumt, der nächste Fischzug in einem anderen Viertel stattfinden mußte.
Giovanni beteiligte sich nur an Kleindiebstählen. Das Fahrradklauen hatte er Ilse ausgeredet, und an Geld wagte sich auch dieser nicht. Sie stahlen Baulampen, Straßenschilder, Fensterläden und Briefkästen, Schokolade, Zigaretten und Obst.
Irgendwann hörte Giovanni einfach wieder auf damit. Er war sich sicher, daß Laura ihn verachten würde, wenn sie herausbekäme, daß er stahl.
Eigentlich, wenn er ehrlich zu sich selber war, fand er keinen Platz in seinem Leben, an den Ilse richtig paßte. Nichts außer Laura interessierte ihn wirklich. Ilse half mit beim Vertreiben der Zeit. Natürlich mochte er ihn, aber nicht so, wie er Bo mochte. Ilse studierte er. Er beobachtete ihn und versuchte sich dann die Beobachtungen zu erklären. Bo hätte er niemals studiert. Bo riß ihn in einen seiner
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