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Das Herz ist eine miese Gegend

Das Herz ist eine miese Gegend

Titel: Das Herz ist eine miese Gegend Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thommie Bayer
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Giovanni bestaunte die riesigen Hotels und spürte Lauras Nähe als ein neues Gefühl. Sie hatten im selben Bett gelegen.
     
    Abends zeichnete sie mit einem Kugelschreiber Grenzen auf ihre Haut, die seine Hand nicht überschreiten durfte. Sie trug einen Pyjama. Die Jacke klappte sie hoch bis zu der Linie, die knapp unter ihrer Brust verlief, und die Hose schob sie hinab bis zu der über den Hüften. Als Giovanni einen Ausfall nach oben versuchte, hielt sie seine Hand fest und sagte: »Spielverderber.« Das Einschlafen war diesmal viel schwieriger.
    »Hast du noch Geld für die Fahrt?« fragte Paul am nächsten Morgen, als sie wieder das Geschirr wuschen. »Ich mag nicht, wenn du autostopst.«
    Freddie apportierte wie ein kleiner Hund, aber immer erst, nachdem er die zu einem Ball geknäuelte Socke ausgiebig gejagt hatte. Später fuhren Laura und Giovanni auf Mullers Solex durch die Wiesen. An einem Wäldchen machten sie Rast. Statt der Kuligrenzen waren jetzt rote Striemen von der Badebürste auf Lauras Haut. Aber die galten noch.
    In der Nacht streichelte sie seinen Rücken. Sie zog ihm die Hose über den Hintern, verbot ihm aber, sich umzudrehen. Er bekam fast keine Luft mehr vor Begierde.
    »Wieso gehorche ich dir eigentlich«, fragte er leise, damit ihr Vater nebenan nichts hörte. »Weil ich dir traue«, flüsterte sie ebenso leise in sein Ohr. Zum ersten Mal schickte sie ihre Zunge in seinen Mund, und zunächst wußte er nicht, wohin mit seiner, bis ihm klarwurde, daß die Zungen zueinander sollten. Danach war das Einschlafen unmöglich. So lernte er, daß auch Frauen schnarchen können. Aber das Schnarchen bezauberte ihn. Es war ein kleines, helles Geräusch und klang für ihn wie ein großes Versprechen.
    Madame Muller mußte Freddie festhalten, als sie Giovanni zum Bahnhof brachten. Es schien, als wolle ihn der Kater nicht gehen lassen. Giovanni winkte aus dem Heckfenster, und Madame winkte mit Freddies Pfote zurück.
    Paul bezahlte die Fahrkarte, und die beiden winkten, als der Zug anfuhr. Kurz bevor sie mit dem Hintergrund verschwammen, schien es, als winke Paul mit Lauras Arm.
    »Ich schreib dir sofort einen Brief«, hatte Laura gesagt, als er einstieg, und schon vom Stadtrand von Aix an wartete er auf dessen Ankunft.
    Als es kurz vor Straßburg dunkel wurde, schrieb er sein erstes Gedicht. Draußen fährt die Nacht vorbei /Drinnen fahre ich / Dazwischen fährt ein Fenster/ und spiegelt mein Gesicht / Ich denke nur an dich.
    Das würde er Laura schenken, wenn sie käme.
    Es war vier Uhr morgens, als er zu Hause ankam. Er weckte Norbert nicht auf, legte ihm nur einen Zettel vor die Tür, auf dem stand: »Bin wieder da.«
    Einzuschlafen war überhaupt kein Problem.
    Am nächsten Nachmittag, er hatte bis ein Uhr geschlafen, ging er bei Ilse vorbei. Er fand ihn in der Malerwerkstatt seines Vaters, wo er Fensterläden strich, die in einer Reihe auf Böcken lagen.
    »Ich war in Frankreich«, sagte Giovanni, als Ilse den Kopf zu ihm herdrehte, doch er erschrak so sehr über dessen Anblick, daß er sich gleich wieder zurückzog. »Bis später«, murmelte er und schloß die Tür hinter sich. Ilse war schwarzweiß.

 
SIEBEN
    Drei Männer flogen ins All und sahen die Erde von allen Seiten. Auch die Beatles waren nur noch zu dritt, denn Paul McCartney war sein eigenes Double. Die drei Buchstaben DKP bedeuten etwas ganz anderes als die drei Buchstaben KPD. Das Wort »primitiv« klang wie eine Aufforderung zum Wegwerfen.
     
    Giovannis Mutter war mit der Erkenntnis aus Italien zurückgekehrt, daß nicht alle Italiener so primitiv seien wie die Gastarbeiter, die man hier sah. Die Norditaliener seien groß, manchmal auch blond, und manche von ihnen arbeiteten in angesehenen Berufen wie Rechtsanwalt, Arzt oder Direktor. Man durfte also nicht alle über einen Kamm scheren. Das wußte sie jetzt. Die Eltern waren gelöst und heiter wie lange nicht mehr. Manchmal glaubte Giovanni sogar, seine Mutter im Haus singen zu hören, aber immer wenn er die Ohren darauf einstellen wollte, war es wieder still.
    Mit Ilse saß er stundenlang auf der Mauer am Fluß. Sie sahen den Stocherkähnen der Studenten nach, verhökerten Zigaretten und genossen Ilses neuen Bekanntheitsgrad. Er wurde hier gegrüßt, da zu einem Fest eingeladen, dort von einem Mädchen angesprochen und sonnte sich gespreizt in diesem Glanz. Er war nach einigen Tagen wieder farbig geworden. Aber nicht wie vorher. Jetzt war er eher pastell, als könne oder müsse

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