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Das Herz ist eine miese Gegend

Das Herz ist eine miese Gegend

Titel: Das Herz ist eine miese Gegend Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thommie Bayer
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Gelegenheitsstrudel, wann immer er wollte. Allenfalls konnte Giovanni sich draußen halten, doch es gelang ihm nicht, den Strudel zu studieren. Bo warf die Dinge über den Haufen, Ilse versuchte sie auszuschlachten. Ilse formte die Welt nicht wie Bo.
    Aber Ilse hatte ihn gern. Ilse wollte sein Freund sein und ihm imponieren. Giovanni verstand nicht, wieso. Was war denn an ihm dran?
    Daß er Ilse studierte, daß er wissen wollte, was dieser alles täte, um sein Freund zu sein: war das Freude an der Macht? Wollte er Macht über Ilse? Ihn zappeln sehen? Vielleicht lag es daran, daß Ilse kein Fahrrad gekostet hatte. Im Gegenteil. Er hatte eines mitgebracht. Ich bin ein Beobachter, dachte Giovanni, ein Zeuge. Ich schaue zu, was die anderen tun, will es sogar verstehen, aber tun will ich es nicht. Einer wie ich müßte eine Tarnkappe haben. Ich bin ein Guckloch-Mensch. Und wurde traurig von solchen Gedanken.
    Norberts Frühstück blieb unberührt, denn er war nicht nach Hause gekommen. Daß Giovanni sich mit seinem Bruder auf einmal so gut verstand, mochte an dessen Angst vor dem Abitur liegen. Und an der Freiheit, in der sie hier ohne Eltern hausten. Giovanni hatte Lust auf eine Zigarette. Die Schachtel von gestern war leer. Zwar gab es bei Ilse noch ein volles Depot, aber er ließ sich nur alle zwei Tage ein Päckchen mitbringen.
    Weil er sich erinnerte, im Schreibtisch seines Vaters eine Schachtel »Ernte 23« gesehen zu haben, ging er in dessen Zimmer. Die Schachtel war ganz voll. Das enthob ihn der Gedächtnisleistung, sie genau so, wie sie war, mit der richtigen Anzahl Zigaretten, wieder zurücklegen zu müssen.
    Es war noch zu früh, um von Laura zu träumen, und er suchte im Regal seines Vaters nach einem Buch, das ihn interessieren könnte. Er zog ein Fotoalbum heraus, blätterte darin, fand aber nur Kinderbilder, alte rötliche Fotos von den Eltern seines Vaters, Postkarten aus dem ersten Weltkrieg, auf denen der Kaiser zu sehen war, und Bilder von Verwandten. Er schob das Album wieder an seinen Platz und nahm ein anderes heraus. Hierin sah er seinen Vater als Schüler, als Studenten in Knickerbockerhosen, wie er stolz ein Fahrrad schob und ungeheuer erwachsen aussah. Ein paar Seiten weiter sein Vater in Uniform. Bilder einer Kaserne, Bilder von Manövern, Bilder von einem Ball. Unter den Fotos kleine Titel wie »Stubennachbarn« oder »Der Alte« oder »Picknick mit der Zweiundsechzigsten«. Er blätterte weiter. Auf einem Bild war eine Kanone in den Straßengraben gerutscht, und zwanzig lachende Männer zogen an Seilen. Das Lachen war für den Fotografen. Ihre Körper waren angespannt und verbogen, die gute Laune wurde der Nachwelt vorgemacht. Giovanni fand seinen Vater nicht auf dem Bild. War er der Fotograf gewesen? War er da schon Offizier? Hatte die Mannschaft für ihn gelacht?
    Drei Seiten später hatte der Krieg begonnen. Die Uniformen, auf den vorigen Fotos noch schmuck und geputzt, sahen auf einmal aus wie gebraucht. Rechts der Marschkolonne auf einem Bild standen Häuser, von deren Dächern nur verkohltes Gebälk übrig war. Französische Ortsnamen standen unter den Bildern.
    Man sah Frauen am Wegrand, und die lachten nicht. Vier Bilder weiter ein zerschossener Panzer. Acht weiter ein abgeschossenes Flugzeug, davor ein Mann, der mit verrenkten Gliedern am Boden lag, und im Halbkreis um ihn Soldaten. Sie lachten. Sein Vater war nicht dabei. Er mußte der Fotograf gewesen sein. Warum sonst war das Bild in seinem Album?
    Es war dieses Bild, das Giovanni in die Brust schnitt. Sein Vater mußte gelacht haben, genauso gelacht wie die Männer, die eben diesen Fremden vom Himmel geschossen hatten.
    Nicht daß Giovanni sich eine harmlose Vorstellung vom Krieg gemacht hätte. Sein Vater hatte erzählt. Von Grauen und auch davon, daß er nicht überwunden habe, was ihm begegnet sei. Auch glaubte Giovanni nicht, daß sein Vater gelogen hatte mit der Behauptung, er habe nie einen Menschen getötet. Der Schuß mußte ja nicht von seinem Vater abgegeben worden sein. Es war etwas anderes. Es waren die Zigaretten in den Mundwinkeln der Männer, das Lachen, die Rührt-euch-Haltung und der Eindruck einer ganz normalen Arbeitspause, den die Gruppe machte. Genau diesen Pauseneindruck hatte Giovanni schon einmal gesehen. Zigaretten in den Mundwinkeln, lässig ans Schienbein gelehnte Gewehre, aufatmend ins Genick geschobene Uniformmützen und dieses, genau dieses Lachen.
    Bei Martins Eltern hatte das Buch im Flur gelegen.

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