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Das Herz ist eine miese Gegend

Das Herz ist eine miese Gegend

Titel: Das Herz ist eine miese Gegend Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thommie Bayer
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sich Giovanni erinnerte. Ein beängstigendes Gewitter schlug den Winter aus der Luft, wusch den Frost aus dem Boden und die Blässe aus der Welt. Am nächsten Tag schien die Sonne, und es war, als hätten Bäume und Büsche über Nacht ausgeschlagen. Die Geräusche klangen heller, das Licht war mild und neu, sogar Arno pfiff beim Frühstück, und der Schulweg roch wie eben frisch geteert.
    Es war so warm, daß die Frauen in luftigen Kleidern gingen und die Männer ihre Jacketts über die Schulter warfen. Herr Winkler hatte ein Lächeln ohne den geringsten sardonischen Zug im Gesicht und Frau Lohr die Bluse zwei Knöpfe weit geöffnet.
    Giovanni schwänzte den Musikunterricht und fuhr freihändig mit dem Rad zum Wildermuth-Gymnasium. Als Laura aus einem Schwarm von Schülern auf ihn zukam, war der Anblick ihres wehenden Kleides, der fliegenden Haare und das Schlenkern ihrer Mappe wie ein Schubs in seinem Herzen. Ein Schubs von irgendwo.
    Sie gingen zur Mauer in der Hoffnung, daß ein Stocherkahn sie mitnähme. Aber der Anlegeplatz war leer. Der Frühling war zu überraschend gekommen. Also fuhren sie in die Weinberge hinter den Kasernen, und Laura saß auf dem Weg dorthin auf dem Gepäckträger seines Rades.
    Auf einer Bank im Wäldchen berührte sie ihn wie niemals zuvor, sie umfaßte ihn und bewegte ihre Hand. Er wußte nicht, was er mehr spüren sollte, den Stoff von ihrem Slip an seinem Handrücken, seinen Finger, der endlich in ihr war, oder ihre Hand, die sich, vorsichtig um ihn gelegt, auf und ab bewegte. Aber bald stand die Adresse seines Gefühls wieder fest, als er sich mit einem Stöhnen abwandte, um nicht auf ihr Kleid oder seine Hose zu kommen.
    »Das ist schön«, sagte sie und kramte ein Taschentuch aus ihrer Mappe. »Der Frühling ist pünktlich.«
    »Und du?« fragte er leise. Die Fontäne aus seiner Mitte war ihm peinlich vor ihr.
    »Ich noch nicht. Ist schön genug so«, sagte sie.
    Er konnte abends kaum einschlafen. Dies war eine neue Art von Hirngespinst. Ein Hirngespinst ganz ohne Bild, ein Gefühl, das, wenn er die Augen schloß, nicht stärker wurde, weil es stärker wohl nicht ging. Ein Gefühl, ein Geräusch, ein Geruch. Noch eine Spur von diesem Geruch war an seiner Hand, er hatte sie nicht gewaschen seither. So, genau so roch dieses beste aller Hirngespinste, das größte der Gefühle, und so roch auch die schönste aller Frauen. Und der letzte Tag, an dem er fünfzehn war.
    Es kratzte an seinem Fenster. Sein Schlaf mußte leicht gewesen sein, denn er fühlte sich hellwach. Seit wann kratzte Freddie, wenn er nachts nach Hause kam? Giovanni war darauf trainiert, Freddies Miauen zu hören, um ihn nachts zu sich ins Bett zu lassen. Es war nicht Freddie.
    »Sei leise«, flüsterte Laura. »Wenn deine Mutter auch noch kommt, geb ich’s auf.«
    »Bloß nicht«, flüsterte er zurück und half ihr beim Einsteigen durchs Fenster, »ich glaub, ich werd verrückt.«
    »Nein«, sagte sie, schloß das Fenster und zog ihre Jacke aus. Sie stellte sich in den Lichtschein, der auch hiervon den Straßenlaternen hereingeworfen wurde, und zog ihren Pullover über den Kopf. Dann öffnete sie den Reißverschluß ihrer Jeans, löste die Schuhbänder, zog die Schuhe von den Füßen und stellte sie leise auf den Boden neben sich. Sie streifte die Jeans von den Hüften, zog das Unterhemd aus, löste den BH, ließ ihn fallen, schob den Slip an die Knie und stieg heraus.
    »Du auch«, sagte sie.
    Er riß sich den Schlafanzug vom Leib und schleuderte Hose und Jacke ins Regal. Dann breitete er die Arme aus, und sie kam auf ihn zu.
    »Sei bitte ganz vorsichtig«, flüsterte sie, »es tut sicher weh.« Es wurde schon heller, und man hörte ein paar Vögel zwitschern, als sie sich anzog, »Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag« sagte und so leise, wie sie gekommen war, durchs Fensters stieg und ging.

 
ELF
    Ein Mensch setzte tapsig seinen Fuß auf den Mond, und dreihunderttausend Kilometer entfernt wußte ein sechzehnjähriger Junge genau, was das für ein Gefühl ist. Muammar al Gaddafi war nicht das neue Pseudonym von Cassius Clay. Eine Sache, die man toll fand, nannte man »irre«.
     
    An diesem Tag hatte Giovanni versucht, sein Fahrrad zu verschenken, aber zwei kleine Jungs, ein Mädchen und ein Student lehnten ab. Also fuhr er nach der Schule zum Wehr, wuchtete das Rad über die Brüstung und gab es dem an dieser Stelle aufgewühlten Fluß. Schicksal, wenn du mich hörst, dachte er, nimm es nicht als

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