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Das Herz ist eine miese Gegend

Das Herz ist eine miese Gegend

Titel: Das Herz ist eine miese Gegend Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thommie Bayer
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wollte jeden Winkel wiedersehen und spielte seine Rolle als Spinner bei jeder sich bietenden Gelegenheit.
    »Ach bän verröckt nach deinäm Ardbärmond«, rief er einer Frau zu, die beim Fensterputzen war. Er brüllte »Vive la France« hinter einem Pulk französischer Soldaten her, die sich daraufhin wie ein Mann umdrehten und drohend auf sie beide zukamen. Bo bequasselte sie in seinem perfekten Französisch, bis sie von ihrem Vorhaben, seine Boche-Fresse zu polieren, wieder Abstand nahmen. »Ich bin zwei Berliner« schrie er zum Balkon des Rathauses hinauf, von wo sich gerade ein hoher Besuch das Treiben auf dem Marktplatz ansah.
    Ilse hatte einen Stand auf dem Dreikönigsmarkt. Er verkaufte Gekreuzigte aus Kuchenteig. Das heißt, er versuchte sie zu verkaufen. Dreißig Stück hatte er modelliert und im Herd seiner Mutter gebacken. Die Jesusse waren durchaus erkennbar, man konnte sogar das INRI auf dem Kreuz lesen. Aber niemandem schien ein solcher Marterlkuchen die drei Mark wert zu sein, die Ilse dafür verlangte.
    »Dies ist mein Leib«, brüllte Bo in seinem Kinski-Tonfall über den Platz. »Eßt ihn.«
    Ein paar Leute blieben stehen.
    »Das ist empörend, junger Mann«, sagte eine Oma, nachdem sie das Angebot eine Weile studiert hatte, und ein Mann sekundierte ihr: »Eine Blasphemie.«
    »Blas-Phemie«, rief Bo und warf seinen Schal über die Schulter wie Maurice Chevalier, »Blas-Ebalg, Blas-de la Concorde ...«, und als die Dame mit ihrem Schirm drohte und »Frechheit« rief, fügte er noch mit einer Gebärde großzügigen Schenkens hinzu: »Blasez vouz dans mon Schuh!«
    Dann ging er zum Glühweinstand und kam zurück mit einem Plastikbecher, den er in der erhobenen Hand anpries: »Dies ist mein Blut, trinkt es. Es hat einen leichten Goût von Zimt und anderen Spezereien, es ist mild im Geschmack und doch würzig.«
    »Unerhört«, schrie jetzt der Herr und fegte die Christusfiguren von Ilses Tisch. Ein Menschenauflauf hatte sich gebildet, und Bo setzte noch hinzu: ». wenn auch etwas seifig im Abgang.«
    Der Herr schlug ihm den Becher aus der Hand, und die Oma wollte ihn festhalten, worauf Bo ihr ins Gesicht sah, von Chevalier wieder auf Kinski umschaltete und stieren Blicks mit Speichel auf den Lippen »Selbst vor dem Podex und den Brüsten der Frau’n ergriff ihn ein Gelüsten« deklamierte. Die Oma floh.
    Auf der Wache ließ man sie bald wieder gehen, denn abgesehen davon, daß Ilse keine Verkaufserlaubnis hatte, war ihnen nichts Ungesetzliches vorzuwerfen. Fünfzig Mark Standgebühr und fünfzig Mark Strafe würden Ilse demnächst in Rechnung gestellt werden. Bo versprach, die Hälfte aufzutreiben. »Ist ja meine Schuld«, sagte er.
    Am nächsten Tag standen sie in der Zeitung. Leider ohne Bild.
    Seit Weihnachten besaß Giovanni eine Gitarre und ein Lehrbuch mit Tabulaturen. Er übte stundenlang und beherrschte bald einfache Stücke wie »Blowing in the Wind« oder »Donna Donna«. Es machte ihm Spaß und störte niemanden, denn außer seinem Zimmer lagen im unteren Hausteil nur noch Keller, Waschküche und ein derzeit unbewohntes Gastzimmer.
    Er wollte endlich sechzehn werden. Sechzehn wie Arno, dem die Welt offenzustehen schien, und vor allem sechzehn wie Laura, die dann natürlich siebzehn sein würde. Den Abstand würde er nie verringern. Aber dennoch glaubte er, alles werde anders, der Abstand sei egal, wenn er nur erst diese Grenze überschritten hätte. Ihm waren auch Pauls Worte in Erinnerung, der über die Geschichte bei Lauras Mutter sehr böse gewesen war. »Warum tut ihr so was Blödes«, hatte er gesagt. »Sie kann mir Laura wegnehmen, wenn sie das geschickt ausschlachtet. Wenn irgendein Richter glaubt, daß ich euch Zusammensein lasse, dann kriegt sie Laura zugesprochen. Ihr seid beide minderjährig, und du, Giovanni, bist noch minderjähriger.«
    »Es tut mir leid«, sagte Giovanni, »ehrlich«, aber Paul lenkte nicht ein. »Wenn ihr vorher nachgedacht hättet, brauchte es euch jetzt nicht leid zu tun. Ihr seid zwei dumme, verliebte Kälber.«
    »Muh«, sagte Laura, die bis dahin stumm in ihrer Ecke gesessen hatte.
    Pauls Kopf fuhr herum, und in der Bewegung wich der Ärger aus seinem Gesicht. Als er dem Blick seiner Tochter begegnete, lachte er schon. »Meine Lieblingskälber seid ihr allemal, davor schützt euch keine Dummheit.«
    »Blöök«, sagte jetzt Giovanni, und als auch Paul in das Gemuhe und Geblöke einstimmte, streckte die Putzfrau den Kopf ins Zimmer und schüttelte ihn

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