Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Herz ist eine miese Gegend

Das Herz ist eine miese Gegend

Titel: Das Herz ist eine miese Gegend Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thommie Bayer
Vom Netzwerk:
zu nützen. Aber welchen Zweck hatte die Kaufhausbrand-Stiftung? Eine Sache, die man irre fand, nannte man »abgefahren«.
     
    Freddie war ein Jäger geworden. Fast jede Nacht kündigte er vor Giovannis Fenster mit einem kehligen Miauen die Anlieferung eines Geschenkes an. Das Geschenk war meistens eine Maus, manchmal auch ein Vogel. Die Vögel waren immer tot, aber die Mäuse konnte Giovanni oft retten. Er zwängte sie dem stolzen Jäger aus den Kiefern, fing sie mit einem Handtuch ein und setzte sie am anderen Ende des Gartens ins Gebüsch. Bei Regen, Schnee und Eis. »Piep«, sagten manche noch zum Dank, bevor sie flitzten.
    Obwohl ihm Freddie in diesen Momenten grausam erschien, konnte er ihm nicht böse sein. Er kann nichts dafür, dachte er, er ist eine Jagdmaschine, er hat keine Wahl. Man kann nicht Mäuse und Katzen zugleich lieben.
    Irgendwann nahmen Freddies Geschenke derart Überhand, daß Giovanni sich entschloß, sie zu ignorieren. Er dachte, für Freddie ist das ein tolles Spiel. Er bringt die Maus, und ich nehm sie ihm ab. Je mehr Mäuse ich ihm abnehme, desto mehr schleppt er an.
    Der Trick funktionierte, aber es war eine Tortur. Giovanni hielt sich ein Kissen über den Kopf, um die Schreie der Maus nicht zu hören, die von Freddie gefangen, wieder freigelassen und wieder gefangen wurde. Ich opfere dich, dachte Giovanni, für deine Brüder und Schwestern, bitte verzeih mir. Nach etwa zehn Minuten war es endlich vorbei, und Freddie hörte tatsächlich mit dem Mäusebringspiel auf.
     
    Giovanni schenkte seinen Eltern einen Fernsehapparat. Den hatte Ilse ihm angeboten, wieder für fünfzig Mark. Halbwild, wie er sagte, ein Versicherungsding. »Eine Glotze, ist ja abgefahren«, sagte Arno, als er den klobigen Kasten mit der Aufschrift »Grundig« im Wohnzimmer sah.
    Die Mutter war begeistert. Der Vater meinte: »Das Fernsehen tötet die Phantasie.«
    »Davon wär mir weniger eh lieber«, sagte Giovanni, denn er dachte an die Bilder in seinem Kopf, die lachenden Männer vor allem, aber auch das Wort »Votz« und die Qualen des Kalbes und der Maus. Er verwechselte Phantasie mit Erinnerung.
    »Naja, für die Nachrichten«, sagte der Vater. Der Vater liebte Nachrichten.
     
    Giovanni durfte in den großen Ferien mit Laura und Paul nach Aix fahren. Paul zeigte ihm Les Baux, die Werkstätten der Keramiker, das Atelier Picassos, den Mont Saint Victoire, und zog Reproduktionen von Cézanne aus der Tasche, wann immer sie mitten in einem der Motive standen. Giovanni fragte viel, und je mehr er verstand, desto mehr gab es zu fragen.
    Er und Laura schliefen nicht miteinander, wenn Paul im Haus war. Sie warteten, bis er ausgegangen war, oder fuhren mit dem Solex in die Umgebung der Stadt. Paul hatte nichts dergleichen verlangt, aber Laura wollte es so, und Giovanni fand, daß sie recht hatte.
    Und dann standen Bo und Ilse im Garten.
    »Schau mal, deine beiden Spinnerfreunde«, sagte Laura.
    Ob sie ein paar Tage im Garten zelten dürften, fragte Bo in seiner kratzfüßigen Art. Giovanni war der Gedanke unangenehm, Paul könnte glauben, das sei hinter seinem Rücken verabredet gewesen.
    Das Zelt, das die beiden auf ihre Rucksäcke geschnallt hatten, war erstaunlich groß. Als sie nach drei Tagen wieder aufbrachen, luden sie Laura und Giovanni ein, mitzukommen. Sie wollten ans Meer. Paul versprach, sie beide abzuholen, und fuhr alle vier in seinem Wagen nach Saintes-Maries-de-la-Mer.
    Der Zeltplatz, auf dem sie schließlich landeten, war eine Art Hippiekolonie. Schnell war Giovanni mit seiner Gitarre und dem mittlerweile umfangreichen Repertoire in verschiedene spontan gegründete Bands aufgenommen. Bo rezitierte Gedichte, und Ilse trug mit seinem Geschick im »Tütendrehen«, wie er es nannte, zum Gelingen der Abende an wechselnden Lagerfeuern bei. Und vor allem mit dem Inhalt der Tüten.
    Giovanni rauchte niemals mit. Ein Instinkt oder Vorurteil gab ihm ein, daß diese Droge nichts für ihn sei. Dann schon lieber Wein.
    »Don’t burgat that joint, my friend, pass it over to me«, sang Ilse jedesmal, wenn Giovanni das Ding weitergab, bis ihn Bo darauf hinwies, daß ein Spruch durch ständiges Wiederholen nicht besser wird.
    Laura verstand sich gut mit den beiden. Es störte sie weder, daß jeden Abend andere Mädchen in ihren Armen schnurrten, noch daß Ilse meist grinsend herumsaß und, wenn das Grinsen nachzulassen drohte, den nächsten Joint drehte.
    Tagsüber schwammen sie, lasen Bücher, alberten herum oder

Weitere Kostenlose Bücher