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Das Herz ist eine miese Gegend

Das Herz ist eine miese Gegend

Titel: Das Herz ist eine miese Gegend Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thommie Bayer
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länger gedauert haben, bis er sie endlich leise die Tür öffnen hörte. Eher sogar spürte er, daß die Tür sich bewegte, so vorsichtig ging sie ans Werk. Sie war vollkommen nackt. Ohne sich zu vergewissern, ob er wach war, stellte sie sich in die Mitte des Lichtscheins, der von draußen hereinfiel, hob die Arme, verschränkte sie hinter dem Kopf und drehte sich langsam um die eigene Achse.
    »Träumst du mich oder bist du wach?« flüsterte sie.
    »Bist du schön«, sagte er und hatte sofort Angst, es könnte zu laut gewesen sein.
    Sie hörten ein Geräusch nebenan. Laura wollte zurück, aber schon ging die Tür im Flur, und sie erstarrte in ihrer Fluchtbewegung. Die Mutter sah in Lauras Zimmer, man hörte sie dort Licht anknipsen, und gleich darauf bewegte sich die Klinke seiner Tür.
    Laura stemmte, nackt wie sie war, die Hände in die Hüften, ließ ihr Spielbein hüpfen und schleuderte ihrer Mutter, als das Licht anging, entgegen: »Was hast du im Zimmer von minderjährigen Jungs verloren?«
    Die Mutter stand fassungslos. Noch wollte der triumphierende Ausdruck aus ihrem Gesicht nicht weichen, da war er schon überholt und sie selber blamiert.
    »Geh in dein Zimmer«, sagte sie nur und blieb fordernd in der Tür stehen.
    »Geh du erst in deins«, sagte Laura, »ich bin zu alt, als daß du mich nackt sehen darfst.« Und dann, als die Mutter draußen war: »Das ist garantiert nicht mein Zimmer.« Sie küßte Giovanni noch schnell, bevor sie ging.
    Er wußte nicht, wo ihm der Kopf und alles andere stand, als der Spuk vorbei war. Ein unteilbarer Mischmasch aus Peinlichkeit, Schrecken, Glück, Ärger und Scham durchwirbelte ihn, und im Lichtfleck stand das Nachbild von Laura und hielt ihn noch lange gefangen.
    Irgendwann, schließlich mußte er doch eingeschlafen sein, stand sie angezogen vor ihm und rüttelte sanft an seiner Schulter.
    »Zieh dich an«, flüsterte sie, »wir hauen ab.«
    Es war vier Uhr und eiskalt, als sie nach draußen schlichen, und der Weg zum Bahnhof fühlte sich an wie verboten. Sie küßten sich und alberten. Laura imitierte ihre Mutter, wie sie am Frühstückstisch »Ich denke, es ist wohl besser, Sie gehen, Herr Giovanni« sagen würde.
    »Ach, Sie denken ? Ist ja ne dolle Geschichte«, steuerte er zu dem Sketch bei. »Ganz dolle Geschichte, gnä Frau, immens dolle Geschichte, gnä Gans.«
    »Wetten, sie hätte mit den Nachbarn angefangen?« sagte Laura. »Und vom Kuppeleiparagraphen hätte sie’s auch gehabt. Daß es ja nicht wegen ihr sei, aber es sei halt strafbar.«
    »Ich hätte kein Wort rausgebracht«, sagte Giovanni, »kein einziges Wort.«
    »Ich schon, ich hätte sie gefragt, wie die Nachbarn ins Wohnzimmer kommen. Nachts um halb eins.«
    Fast zwei Stunden lang streiften sie frierend durch die nächtliche Stadt, bis endlich ein Zug, der sie nach Hause brachte, fuhr.

 
NEUN
    Drei Männer flogen um den Mond und sahen die Erde in Blau. Ho Chi Minh starb im Wega-Radio und am nächsten Tag noch einmal in der Zeitung. Und am Montag danach, ganz langsam, im >Spiegel<. In Berlin hatte »Gewalt gegen Sachen« Premiere.
     
    Bo war wieder da. Das Kepler-Gymnasium hatte eingewilligt, ihn aufzunehmen, und als diese Nachricht bei ihm eingetroffen war, hatte er die Leidenszeit auf der Nordseeinsel durch einen dreitägigen Lachkrampf abgekürzt. Die Lehrer und Erzieher wurden durch sein nicht enden wollendes Lachen in solche Verzweiflung gestürzt, daß er schon eine Woche vor den Weihnachtsferien nach Hause durfte.
    Sein Vater verbot ihm zwar den Umgang mit Giovanni, denn in seiner Lesart hatte der ihn immer zum Schlechten verführt, aber schon zwei Stunden nach seiner Ankunft stand Bo vor der Tür. In Farbe.
    Er hatte sich verändert. In seinem Benehmen zeigte sich ein seltsamer Wechsel von Selbstsicherheit und Unterwürfigkeit. Je nachdem, auf wen er traf oder reagierte, konnte er seine gesamte Körperhaltung ändern. Bei Giovanni war er gerade, klar und witzig und gegenüber dessen Mutter im nächsten Augenblick von einer trüben, servilen Höflichkeit, die Giovanni erschreckte. Aber dieses Erschrecken verdarb ihm die Wiedersehensfreude nicht, denn erst jetzt, da er Bo wieder hatte, bemerkte er das Ausmaß des Verlustes.
    Als wäre seine rechte Hosentasche vernäht gewesen und die Naht jetzt unverhofft geplatzt, stand er auf einmal wieder im Gleichgewicht.
    Obwohl es kalt war, streunten sie durch die Stadt wie ausgerissene Hunde. Laura war beim Skilaufen, und Giovanni hatte Zeit. Bo

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