Das Herz ist eine miese Gegend
Kleinlichkeit, nimm es als Respekt.
Ilse war von der Schule abgegangen, um eine Lehre bei seinem Vater zu machen. »Ich brauch Kohle«, hatte er gesagt, »und keine Mathematik. So gut kann ich schon rechnen.«
Mit Gitte war er nicht mehr zusammen, aber wie Bo hatte er immer eine Freundin. Er wechselte sie nicht so schnell, aber blieb auch nie lange allein. Seine feuerblonden Locken, sein hübsches Gesicht und die Tatsache, daß er immer Haschisch hatte, machten ihn zu einer begehrten Figur in der Szene. Haschisch würde später einmal »Shit« heißen.
Inzwischen machte er Skulpturen. Zahnräder, Puppenteile und Spiegelscherben, mit Gips und Ton vermischt und meistens weiß lackiert, blockierten die Werkstatt seines Vaters, der dafür nichts übrig hatte. Aber wann hatten je Väter etwas für die Kunst ihrer Söhne übrig gehabt? Der Vater malte selber. Nicht nur die Schilder für Weihnachtsmärkte, Werkstätten und Messestände, sondern auch Wandbilder in Lokalen, historische Szenen und Rotwild in der Landschaft. Allesamt Bilder, bei denen man wußte, was sie darstellen sollten. Kein Wunder, daß ihm Ilses Werke nicht gefielen. Er ahnte nicht, daß sein Sohn ihn bewunderte und so sein wollte wie er. Nur eben moderner.
Ilses Vater hielt sich für etwas Besseres und liebte nur die, die das auch taten. Da Ilse sich in dieser Hinsicht nie geäußert hatte, sein Vater also nichts von der Bewunderung wußte, war das ganze ein Mißverständnis. So etwas würde man bald einen Kommunikationsfehler nennen.
Giovanni hielt Distanz zu Bos und Ilses Freundinnen, denn er wußte, sie würden bald wieder ausgetauscht sein. Er beugte den Verlusten vor, indem er sich verschloß. Manche mochte er gern, und es tat ihm weh, wie sie bei zufälligen Begegnungen ihre neuen Freunde fester unterhakten, lauter lachten und den Blick in Bos oder Ilses Richtung vermieden. Und Bos und Ilses sichtbarer Stolz in solchen Augenblicken tat ihm auch weh.
Mit Lauras stetiger Hilfe hatte er den Anschluß an die Klasse wiedergefunden und war in den schwierigen Fächern auf eine haltbare Vier geklettert. Er tat nur so viel, daß es für diese Vier reichte. Außer in Englisch und Deutsch entwickelte er keinen Ehrgeiz. In diesen Fächern zählte er zu den Besten und half Laura, obwohl die ein Jahr weiter war.
Im Akkord, für fünf Pfennig pro Stück, alphabetisierte er inzwischen Karteikarten für ein umfangreiches Lexikon, an dem Paul arbeitete. Dieser Job und Lauras Nachhilfeunterricht erlaubten ihm, die meisten Nachmittage bei ihr zu sein. Natürlich verbrachten sie die Zeit nicht nur mit Lernen und Kartei.
Es war nicht mehr nur ein Geschenk, das Laura ihm machte, auch sie hatte Lust dazu. Die Pille hatte ihre Brüste vergrößert, und obwohl sie manchmal weh taten, trug sie keinen BH und mochte es, wenn Giovanni darauf schielte.
»Lechz, lechz«, sagte sie dann, und er machte Stielaugen.
»Votz« stand mit großen schwarzen Lettern an der Wand der Fußgängerunterführung beim Museum. Er fragte sich, was Laura beim Lesen empfände.
Einmal fuhr er mit ihr auf dem Gepäckträger seines neuen Mofas durch und gab vor, ein Kinoplakat neben der Inschrift zu studieren. Aber sie sagte nichts, und er wollte sie nicht fragen. Und doch ging ihm manchmal, wenn er sie berührte, der Gedanke durch den Kopf, ist das jetzt ein Votz oder nicht? Aber er schämte sich dieses Gedankens und versuchte ihn immer, so schnell es ging, zu verdrängen.
Mit dem Mofa war er auf einer seiner Fahrten auch am Schlachthof vorbeigekommen. Von einer erhöhten Stelle an der Straße sah man hinter die Mauer. Es gab eine Halde, auf die der Inhalt der Mägen geschüttet wurde. Grünes, breiiges Zeug, dessen Geruch in Giovannis Nase drang. Zwei Metzger in blutigen Schürzen zerrten ein Kalb zur Tür, das sich, trotz der Prügel und des Seils um seinen Hals, dagegen sträubte. Einer der Metzger sagte: »Es will halt auch nicht sterben.« Er sagte es lachend, in einem freundlichen, fast verständnisvollen Ton, während er unnachgiebig mit einem Stock auf das Kalb einschlug. Giovanni wurde schlecht. Bei der Fahrt nach Hause sah er die Straße nur verschwommen. Da war es wieder, das Lachen. Er sprach mit niemandem darüber, nicht mit Laura und nicht mit Paul, aber er aß kein Kalbfleisch mehr.
ZWÖLF
Es gab eine Konrad-Adenauer-Stiftung eine HannsSeidel-Stiftung, eine Friedrich-Ebert-Stiftung und eine Friedrich-Naumann-Stiftung. Alle diese Stiftungen hatten den Zweck, einer Partei
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