Das Herz kennt die Wahrheit
Es ist keine Enttäuschung, redete sie sich ein. Eher Zorn. Und sie hatte immer schon gewusst, wie sie mit Zorn umzugehen hatte.
Newton stand im Schatten und fragte sich, wie lange Darcy noch den scharfen Wind auf Deck aushalten würde.
Er hatte die Worte gehört, die Gryf und Darcy gewechselt hatten. Und obgleich ihn sein schlechtes Gewissen plagte, da er sich eingemischt hatte, erfreute es ihn doch, dass einer von beiden den Schritt gewagt hatte, um der Annäherung Einhalt zu gebieten, die sich zwischen ihnen entwickelt hatte.
Eine unschuldige Frau wie Darcy musste vor ihrem törichten Herzen beschützt werden. Und er hatte ihrem Großvater und den anderen sein Wort gegeben, auf sie aufzupassen, auch wenn es bedeutete, dass sie im Augenblick darunter zu leiden hatte.
Dennoch nagte das Schuldgefühl an ihm. Er hatte immer geglaubt, in Herzensangelegenheiten so manches nicht nachvollziehen zu können. Doch er verstand, warum Darcy sich zu dem einsamen Seemann hingezogen fühlte. Er ähnelte Gray so sehr, dass er selbst ins Nachdenken gekommen war. Aber das erklärte nicht, warum Gryf sich so auffällig für eine Frau interessierte, die er kaum kannte. Es sei denn, dass sie irgendwelche Erinnerungen in ihm weckte. Erinnerungen, die lange von seinem Schmerz überlagert worden waren und jetzt mit aller Macht ins Freie drängten. Wäre das der Fall, würde das vergessen Geglaubte weiter an die Oberfläche drängen, bis seine Vergangenheit mit der Gegenwart verschmolz. In der Zwischenzeit musste er selbst sich um Darcys Seelenheil kümmern. Und er beabsichtigte, alles Notwendige zu tun, um sie zu beschützen.
Der alte Mann zitterte in der Kälte und steckte die Hände in die Taschen, bevor er das Deck überquerte und sich neben Darcy stellte.
"Du bist lange auf, Mädchen."
"Ja."
"War das Gryf, der da eben wegging?"
"Er war es."
Newton vermochte nicht zu sagen, ob Kummer oder Zorn in ihrem Tonfall mitschwang. Vorsichtig schaute er sie an. Ihr Blick war in den Sternenhimmel gerichtet.
"Was denkst du, Mädchen?"
"An die Zeit, als Gray von seiner ersten Seefahrt auf dem Schiff seines Vaters zurückkehrte und mir von Orion, dem großen Jäger, erzählte. Auch wenn Orion sich noch so sehr bemühte, er konnte den Skorpion nicht besiegen. Als er zu fliehen versuchte, versetzte ihm der Skorpion einen tödlichen Stich mit seinem vergifteten Stachel. Und seitdem jagt der Skorpion Orion am Nachthimmel hinterher."
Sie deutete auf ein Sternbild. "Dort sind sie, Newt. Der Jäger. Und der Skorpion."
"Gray war ein guter Geschichtenerzähler, Mädchen. Keiner konnte besser erzählen."
"Ja." Eine ganze Weile sagte sie nichts, ehe sie flüsterte: "Gryf kann auch gut erzählen."
Als er sie ansah, entdeckte er, dass Tränen an ihren Wimpern glitzerten. Er bezweifelte, dass er es aushalten könnte, wenn sie sich jetzt an seiner Schulter ausweinen würde. "Wir sollten besser unter Deck gehen; es ist zu kalt."
"Kalt?" Sie schaute sich um. "Das habe ich gar nicht wahrgenommen."
"Dann muss dein Blut heißer als meins sein, Mädchen. Komm."
Newton ging voran, als sie sich unter Deck begaben.
Vor der Kajütentür blieb sie stehen. "Gute Nacht, Newt."
"Gute Nacht, Mädchen."
Der alte Mann wartete, bis er hörte, dass der Riegel vorgeschoben wurde. Dann begab er sich zu seinem Nachtlager bei der Mannschaft und ging an den schlafenden Matrosen vorbei zu seiner Hängematte. Rasch hüllte er sich in seine Decke und rollte sich zusammen. Mit einem Schulterzucken versuchte er, seine Gewissensbisse abzutun, und war schon bald eingeschlafen.
In der anderen Ecke des Raums lag Gryf in seiner Hängematte und hing seinen Gedanken nach. Er hatte den alten Mann hereinkommen hören. Neben ihm seufzten die Männer im Schlaf, und Fielding, der dicke Koch, schnarchte. Doch er selbst fand keinen Schlaf. Seine Gedanken kreisten unentwegt um Darcy Lambert.
Was hatte es mit dieser Frau auf sich, dass er immerzu an sie denken musste? Ähnelte sie jemandem, den er gekannt und geliebt hatte? War er womöglich jener Mann, dem sie nachtrauerte? Es schien mehr als unwahrscheinlich. Mit dem Namen, den Newt ihm genannt hatte, konnte er nichts anfangen. Außerdem war ihr Geliebter mit einem Schiff untergegangen. Und seine Wunden hatte er sich bei einem Brand in einer Schenke zugezogen.
Dennoch hatte er sich sofort zu dieser Frau hingezogen gefühlt. Gleich am ersten Abend, als er sie in der Schankstube gesehen hatte, war sie ihm anders als alle übrigen
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