Das Herz kennt die Wahrheit
Frauen vorgekommen. Statt der sittsamen Kleider, die sämtliche Frauen im Dorf trugen, war sie mit ihren Hosen und Stiefeln wie ein Seemann gekleidet gewesen. Und sie hatte ihr goldenes Haar offen getragen, anstatt es unter einer Haube zu verstecken. Kein Wunder, dass sie ihm aufgefallen war. Jeder Mann in der Schenke hatte sie bemerkt. Er hatte sie äußerst anziehend gefunden; aber er hatte sie nicht wiedererkannt.
Gryf rollte sich auf die Seite und suchte eine bequeme Lage. Er nahm es Newton nicht übel, dass er ihn gewarnt hatte. Der alte Mann liebte Darcy. Er hatte das Recht, auf sie Acht zu geben, insbesondere da sie sich in einer Männerwelt befand.
Wie merkwürdig, dass sich jemand mit dieser goldenen Haarpracht und Augen, die blauer als der Himmel waren, für einen solchen Beruf entschieden hatte. Denn in einem eleganten Kleid und an einem prunkvollen Ort würde man sie sicherlich für eine Königin halten. Doch selbst die grobe Kleidung eines Seemanns vermochte ihre Schönheit nicht zu schmälern; eine Schönheit, die mit einem eisernen Willen verbunden war, der ihr half, das Leben, das sie sich ausgesucht hatte, zu meistern.
Dennoch, trotz ihrer Fähigkeiten als Seefahrer war sie voller Unschuld, was Männer betraf. Sie mochte vielleicht einen jungen Burschen geliebt haben, aber sicherlich keinen Mann. Nicht in der Weise, wie eine Frau einen Mann liebt. Das verriet ihm die Art, wie sie küsste. Es schien, als hätten ihre Lippen nie zuvor die Lippen eines Mannes berührt. Er dachte daran, wie sie auf seine fordernden Küsse ansprach – mit einem blinden Vertrauen, das liebenswert und bedenklich zugleich war.
Trotz allem war sie keineswegs eine hilflose Frau. Er hatte gesehen, wie gut sie sich aufs Kämpfen verstand. Es gab keinen Mann an Bord, der ein Messer so treffsicher wie Darcy werfen konnte. Den Degen hatte sie mit der gleichen Geschicklichkeit geschwungen. Fürwahr, wenn es zu einem Gefecht mit eingefleischten Schurken käme, hätte er lieber Darcy Lambert an seiner Seite als irgendeinen anderen Seemann.
Alles in allem war sie eine höchst erstaunliche Frau. Kein Wunder, dass er sich zu ihr hingezogen fühlte. Er öffnete die Augen und sah einen dünnen Strahl des Mondlichts über die Decke flimmern. Ja. Er fühlte sich nach wie vor zu ihr hingezogen, obgleich er wusste, dass sie einen anderen Mann geliebt und verloren hatte. Und jetzt, da er gewarnt worden war, dass seine wahre Identität sie womöglich verwirren könnte, fragte er sich, was dabei sein sollte. Er hatte sie wissen lassen, dass er Gryf war. Ein einfacher Seemann. Und dass er sich zu ihr hingezogen fühlte.
Er lächelte in die Dunkelheit hinein. Es war gar nicht so schwer gewesen, zu einer Entscheidung zu kommen. Vielleicht war das der größte Vorteil an einem Gedächtnisverlust, dass er nicht mehr wusste, ob er nach den Regeln anderer Leute gelebt hatte oder bloß seinen eigenen gefolgt war.
Jetzt stellte es ihn zufrieden, die Regeln selbst zu bestimmen. Jeden Tag aufs Neue. Insbesondere dann, wenn es um Darcy Lambert ging.
Schließlich schlief er erleichtert ein.
"Wir bleiben heute hier im Hafen und erledigen die notwendigen Reparaturen, Leute", sagte Newton zu den Männern, die einen Kreis um den Ersten Offizier gebildet hatten. "Bis ich davon überzeugt bin, dass die 'Undaunted' wieder seetüchtig ist."
Gryf stand am Rand der Gruppe und beobachtete, wie Darcy an Deck stieg. Sie trug eine Männerhose, die sie in die Stiefel gesteckt hatte, und ein farbenprächtiges Hemd mit gebauschten Ärmeln. Ihr vom Wind zerzaustes Haar hing ihr in langen, goldenen Locken über die Schultern, und ihr Gesicht war von der Wintersonne leicht gerötet.
Als sie seinen Blick bemerkte, kehrte sie sich von ihm ab und holte mit einer Schöpfkelle Wasser aus einem Fass.
Gryf schlenderte zu ihr hinüber und versuchte, sich gelassen zu geben. "Guten Morgen, Captain."
Sie trank aus der Kelle, schluckte und bemühte sich, ihre Gefühle im Griff zu behalten. "Guten Morgen."
Das unangenehme Schweigen zwischen ihnen wurde durch die helle Stimme des jungen Whit unterbrochen.
"Wenn noch Zeit ist, dürfen wir dann noch an Land gehen und uns das Dorf ansehen?"
Zur Freude der anderen nickte Newton. "Das dürft ihr. Wenn die Arbeit getan ist. Aber ich erwarte, dass ihr vor Anbruch der Dunkelheit wieder an Bord seid." Er hatte die Angelegenheit mit Darcy durchgesprochen, und sie waren beide der Ansicht gewesen, dass eine Nacht an Land zwar eine
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