Das Herz kennt die Wahrheit
gezwungen hatte, ihr sein furchtbares Geheimnis zu eröffnen. Daher hoffte sie, die aufgestaute Spannung zwischen ihnen abzubauen, wenn sie etwas Zeit miteinander verbrachten.
"Du hast eine rasche Auffassungsgabe, Whit."
Der Junge lächelte sie an. "Das sagt auch Gryf. Er meint, ich könne alles tun, was ich mir in den Kopf gesetzt habe."
"Und was möchtest du einmal machen?"
"Der Captain eines Schiffs sein, wie Ihr."
Darcy musste lächeln, obgleich sie sich geschmeichelt fühlte. "Es gibt leichtere Aufgaben, um im Leben zurechtzukommen."
"Ja, aber keine ist so befriedigend."
"Das mag stimmen." Sie nahm einen Hobel und begann das andere Ende des Holzstücks zu bearbeiten. Die beiden arbeiteten Hand in Hand, während die Mannschaft mit Sägen und Hämmern damit beschäftigt war, den Schaden im Schiffsrumpf zu beheben.
"Gryf erzählte mir einmal, dass einem das Segeln ins Blut übergeht. Je länger man auf See ist, desto mehr sehnt man sich auch nach dem Meer."
"Glaubt Gryf, dass er vor seinem Unfall ein Seemann war?"
Der Junge zuckte mit den Schultern. "Er kann sich nicht erinnern. Aber ich glaube, er war einer. Ich habe gesehen, wie er Dinge macht, die selbst die anderen Männer an Bord nicht beherrschen."
"Welche zum Beispiel?"
"Als er das erste Mal mit mir in die Wanten kletterte, brauchte er nie darauf zu achten, wohin er treten musste. Er ist dort hinaufgestiegen, als wäre es eine Leiter. Dasselbe mit den Tauen. Newt sagt, er hat noch nie jemanden gesehen, der so gute Knoten wie Gryf machen kann."
"Das hat Newt gesagt?" Als der Junge nickte, zog Darcy eine Braue hoch. "Dein Freund darf sich geehrt fühlen. Der alte Newt macht selten Komplimente."
"Gryf hat auch Euch ein Kompliment gemacht."
Gespannt sah Darcy den Burschen an. "Was hat er denn gesagt?"
"Dass Ihr der hübscheste Captain seid, den er je gesehen hat."
Darcy errötete, obwohl sie sich einzureden versuchte, dass die Worte keine Bedeutung hatten. "Vermutlich bin ich der erste weibliche Captain, den er je gesehen hat."
"Warum seid Ihr der Captain dieses Schiffs, und nicht Newt?"
"Weil die 'Undaunted' meiner Familie gehört. Newt war der Erste Offizier an Bord dieses Schiffes, als mein Großvater noch Captain war. Er dachte schon, dieser Teil seines Lebens sei vorüber. Doch jetzt, da mein Vater und mein Bruder nicht mehr leben, haben meine Schwestern und ich beschlossen, die Geschäfte der Familie fortzuführen. Und so haben wir Newt gebeten, uns zu helfen."
"Es muss schön sein, eine Familie zu haben."
Sie hielt inne. "Gibt es da niemanden mehr außer deinem Onkel?"
Er schüttelte den Kopf.
"Aber jetzt hast du Gryf."
"Ja." Seine Miene hellte sich auf. "Und er ist besser als alle anderen auf dieser Welt."
"Ahoi, 'Undaunted'!" Bei Newtons Ruf liefen Darcy und Whit zur Reling und sahen zu, wie der alte Seemann und die anderen über die Strickleiter an Bord kletterten.
Fielding schleppte fröhlich die Vorräte über das Deck und verschwand in der Kombüse.
Als Gryf sich über die Bordwand schwang, blieb Darcy stehen, während Whit ihm entgegenstürmte. In diesem Augenblick wünschte sie sich, auch sie könnte so frei wie der Junge auf ihn zulaufen.
Die Augen des Burschen waren vor Neugierde geweitet. "Hast du mir etwas mitgebracht, Gryf?"
"Vielleicht." Der Mann verstand es, eine undurchdringliche Miene aufzusetzen.
"Was ist es? Was hast du mitgebracht?" Der Junge bebte schon vor Aufregung.
Gryf fasste in seine Tasche und holte eine Hand voll Kekse hervor.
Die Augen des Jungen glänzten. "Wo hast du die bekommen, Gryf?"
"Von der Köchin in der Schenke. Ich erzählte ihr von einem Burschen, der sich nach etwas Süßem sehnt."
Bewundernd schaute Whit zu ihm auf, als er in den ersten Keks biss. Dann erinnerte er sich, was Anstand bedeutete, und hielt Darcy das Backwerk hin. "Nehmt einen, Captain."
Dankend lehnte Darcy ab. "Behalte du sie, Whit. Und heb dir einen für später auf, wenn du noch mal Hunger bekommst."
"Mach' ich. Danke, Gryf." Der Junge brachte seinen Schatz in die Mannschaftsunterkünfte.
Darcy schaute ihm nach und wandte sich dann lächelnd zu Gryf um. "Das war nett von dir. Ich glaube, Whit hat in seinem jungen Leben nur wenige Geschenke erhalten."
"Ja. Genau das dachte ich auch." Er erwiderte das Lächeln nicht. Offenbar lag ihm viel daran, von ihr loszukommen, denn er kehrte sich unvermutet von ihr ab.
Verwundert sah sie, wie er über das Deck ging und einen Hammer nahm. Kurz darauf half er den anderen
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