Das Herz von Veridon: Roman (German Edition)
ich es mir immer erträumt hatte. Seit ich ein Kind war.
Rasch füllte mich die Dunkelheit aus. Diesmal wusste ich, worum es sich handelte – um den Geist Camillas, der in ihren zerlegten Organen weiterlebte. Sie schlug blindlings im Steuerblock um sich. Ich konnte nicht länger bleiben. Wir hatten ein gutes Stück des Wegs nach unten hinter uns, schwebten über den Ebd und gelangten in die eigentliche Stadt. Veridon breitete sich unter uns aus. Überall in der Stadt begannen Warnsirenen zu schrillen. Ich löschte die Brenner und schaltete die Lichtanlage ein, um den Menschen die Chance zu geben, aus unserem Weg zu fliehen, dann fing ich an, mich vom Steuerblock abzukoppeln. Ein letztes Mal benutzte ich das Sprechsystem.
»Wilson, Status?«
»Wir sinken irgendwie ein wenig schnell!«, brüllte er. Seine Stimme klang besorgt. Man stelle sich vor, mein Anansi-Freund hatte Angst davor, vom Himmel zu fallen.
»Das ist schon in Ordnung. Was ist mit unseren ungebetenen Gästen?«
»Die sind überall. Ich bin gerade auf dem Hauptdeck. Soll ich zu einem Absturzsitz?«
»Oh ja, unbedingt. Wie …«
Das Sprechsystem verabschiedete sich. Ich wurde abgekoppelt. Die Anschlüsse lösten sich mit einem Übelkeit erregenden Schmatzen von meinen Augen, und mein Herz klappte zu. Ich setzte mich auf und versuchte, den rostigen Geschmack in meinem Mund auszuhusten. Im Raum herrschte völlige Finsternis. Die verlöschenden Brenner befanden sich unmittelbar hinter dem Schott über mir. Die Luft roch nach verbranntem Öl. Der Boden neigte sich mit beängstigender Geschwindigkeit. Ich stand auf. In der Luft lag noch etwas anderes: der Geruch von Sommerblumen.
Emily befand sich an der Tür, lehnte sich an den Rahmen. Das aus ihrer Brust ragende Aggregat war weggebröckelt. Dafür schienen sich die Metallblasen an ihren Armen verfestigt zu haben, und hinter ihrem Kopf leuchtete ein gespenstischer Schein.
»Em, Liebste, geht es dir gut?«, fragte ich sie. Ich stand immer noch neben der Truhe. Das Schiff raste zitternd in die Tiefe, der Boden neigte sich mit jeder verstreichenden Sekunde immer steiler.
»Alles in Ordnung, Jacob. Hast du das Mechagen gerettet?«, wollte sie wissen. Ihre Stimme klang schwach. Ich musste mich anstrengen, um sie zu hören.
»Ja, ich habe es.« Ich holte das Herz des Engels aus der Jackentasche. Von einem der tiefer gelegenen Decks ertönten sporadisch Schüsse. Aus der Stadt unter uns konnte ich das Geheul der Sirenen hören, das leise durch das Schiff hallte. »Es wird gleich ein wenig ungemütlich, Emily. Wir müssen dich anschnallen. Komm mit mir.«
Ich streckte eine Hand aus, um sie aus dem Kontrollraum zu führen und steckte dabei das Mechagen zurück in die Innentasche meiner Jacke. Ich wollte uns zum Hauptgeschützdeck bringen, zu einer der Absturzkammern. Sobald wir unten wären, würde das ein guter Ausgangspunkt für die Evakuierung sein. Wilson würde unter Deck zurechtkommen.
»Ungemütlich. Ja.« Sie trat einen Schritt vor. Das Licht der Notbeleuchtung tänzelte auf dem Schein um ihren Kopf. Ich sah, dass sie zwei kleine Flügel hatte, einen über jeder Schulter, rund dreißig Zentimeter lang, zierlich und von transparenter Schönheit. Silbrige Adern verliefen über ihr Gesicht, und ihre Augen glichen mondhellen Tümpeln kalten Lichts. Sie hob die Hände. »Tut mir leid, Jacob. Sie ist der einzige Körper, den du mir gelassen hast.«
Der Engel sprang vorwärts. Die Hände verwandelten sich in hauchdünne Klingen aus strahlendem Licht. Sie schwangen nach mir, verfehlten mich und rissen ein Stück aus der Truhe. Irgendwo ging ein Aufprallalarm los. Wir hatten etwas gerammt. Das Luftschiff schlingerte, als es nach der Kollision mit dem Turm oder Wohnhaus den Weg fortsetzte. Emily kam auf mich zu. Ihre Hände standen in Flammen.
Ich entschied mich für die kluge Lösung und ergriff die Flucht. Der Kontrollraum besaß einen Notausgang. Ich schlug auf die Paniktaste und sprengte dadurch die Tür auf, dann rannte ich hinaus auf das Evakuierungsdeck. Mittlerweile hatte sich das Schiff derart steil geneigt, dass sich die Stadt unmittelbar vor mir erstreckte. Wir rasten mit verheerender Geschwindigkeit dahin. Unser Abstiegswinkel entsprach nahezu perfekt dem des Gefälles der Stadt hin zum Reine. Als ich über das Evakuierungsdeck zu einem Schwebeboot rannte, streiften wir ein Lagerhausdach, zogen knirschend eine breite Schneise in die Schindeln und prallten dann zurück in die Luft. Ich schaute
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