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Das Herz

Das Herz

Titel: Das Herz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams
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vergiftet gewesen waren, aber er selbst fühlte nichts Schlimmeres als jene abgrundtiefe Lethargie, die ein Kampf ums Überleben nach sich zieht. Lorgan stöhnte und warf sich herum, doch gegen Mitternacht schien das Schlimmste überstanden, denn von da an schlief er ruhig.
    Am Morgen schien es dem Jungen zu Therons Erleichterung viel besser zu gehen. Sein Gesicht, seine Hände und Arme waren geschwollen und mit nadelstichgroßen Löchern übersät, in denen zum Teil noch die abgebrochenen oder auch ganzen Puppenpfeile steckten, und Theron musste das erste Tageslicht darauf verwenden, die Wunden des Jungen nach bestem Vermögen zu säubern, ehe er sich um seine eigenen kümmern konnte. Ihm war klar, dass der Moment der Umkehr nun noch früher gekommen war, als er gedacht hatte, aber nie und nimmer würde er sein Leben und das des Jungen riskieren und noch tiefer in ein Land vordringen, wo offensichtlich Wahnsinn und schwarze Magie der schlimmsten Sorte regierten.
    Als Theron mit Packen fertig war, beendeten der Junge und der Vermummte ihre geflüsterte Unterredung, und Lorgan wandte sich ihm zu.
    »Er will wissen, wann wir in Südmarksburg ankommen. Er meint, wir sind schon nah dran.«
    »Wir?« Theron schnaubte. »Wir? Wir kommen gar nicht in Südmarksburg an. Wir kehren nämlich um.«
    Der Junge sah ihn merkwürdig an, drehte sich aber gehorsam um und lauschte seinem Herrn. »Er sagt, es ist nicht mehr weit — höchstens noch ein paar Tagesmärsche, da ist er sich sicher. Und die Götter sind nicht wirklich gegen unsere Reise, sonst hätten sie Schlimmeres geschickt als das.«
    Jetzt lachte Theron verblüfft auf. »Ach? Und wenn wir weiterreisen, dürfen wir vielleicht erfahren, was die Götter für schlimmer erachten, als von tausend Nadeln gestochen und aller Wahrscheinlichkeit nach von kleinen Kobolden gebraten und verspeist zu werden? Ein Jammer, sich das entgehen zu lassen, aber ich glaube doch, ich passe.«
    Nach einer weiteren fast lautlosen Beratung fragte der Junge: »Ihr wollt uns also verlassen?«
    »Wenn du meinst, ob ich
dich
verlassen will, nein, Kind. Ich bin nicht der beste Mensch auf Erden und habe oft vergessen, dass ich den Göttern meinen Lebensunterhalt verdanke, aber — nein, ich lasse dich nicht diesem Irren in Gefahr und Tod folgen. Entweder lässt er dich mit mir gehen, oder er muss mit mir kämpfen.« Aber er hatte den Vermummten ja kämpfen sehen, wenn auch nur kurz, und die Vorstellung, gegen ihn anzutreten, war mehr als beängstigend.
    Jetzt starrte ihn der Junge eine ganze Weile an, ehe er sich seinem Herrn zuwandte. Während das Kind dem Vermummten zuhörte, griff Theron in sein Wams und holte seinen Geldbeutel heraus. Es war seltsam, aber er hatte plötzlich das Gefühl, dass es Zeit war, das Rechtschaffene zu tun und nichts anderes. Sonderbare Dinge liefen ab, draußen in der Welt und hier zwischen ihm und diesem geheimnisvollen Mann. Indem die Götter ihm fast das Leben genommen hatten, hatten sie Theron daran erinnert, dass sie immer gegenwärtig waren. Er würde es nie wieder vergessen.
    »Hier, Junge«, sagte er. »Komm, nimm den Beutel.«
    »Er sagt ...«, setzte Lorgan an.
    »Das ist mir egal. Ich habe nicht alles erfüllt, was ich versprochen habe — ich habe ihn nicht bis nach Südmarkstadt gebracht —, also habe ich sein Geld nicht verdient. Macht nichts. Er hat mich schon mehr als großzügig bezahlt, mit jener ersten Goldmünze, als er sich dem Pilgerzug anschloss. Wenn er gestattet, werde ich noch eine nehmen, für die Mühe und die Auslagen bis hierher, und wenn er so verrückt ist, ohne uns weiterzugehen, dann werde ich für dich ein gutes Zuhause finden, Junge, ich schwör's, wenn ich dir nicht sogar selbst eins gebe. Aber weiter gehen wir nicht.«
    Lorgans Augen waren weit; vielleicht war er den Tränen nahe, aber das war schwer zu sagen, weil sein ohnehin schon so dreckiges Gesicht jetzt auch noch verquollen und blutverschmiert war. Er nahm den Beutel und übergab ihn so langsam wie bei einem Ritual dem Vermummten, der ihn mit der gleichen Feierlichkeit entgegennahm.
    Etliche Herzschläge lang standen sie alle drei schweigend da, bis schließlich das Ratschen eines Hähers den Bann brach.
    Der Namenlose stand auf, hielt den Kopf aber gesenkt, wie es seine Art war. Obwohl sie jetzt einen Monat zusammen gereist waren, hatte Theron das Gesicht des Mannes noch nie richtig gesehen, ja überhaupt kein Stück seiner Haut. Der Vermummte murmelte etwas, das Theron nicht

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