Das Herz
sehr ähnlich, Zyklen, die anbrachen und sich schlossen, anbrachen und sich schlossen, bis die Zeit selbst nur aus Kreisen bestand. Und es war der Gesang einer Frau, ein Gesang vom Stolz aufs Überleben, ein Triumphgesang auf das Überdauern des Lebens trotz aller Gefahren, aller Widrigkeiten ...
»Wenn Tage in Stille enden
Wenn Nächte ins Morgengrau münden
Wenn alles vor dem Namenlosen steht und nicht zu sprechen wagt
Bin ich alle meine Mütter!
Alle meine Töchter bin ich!
Ich bin die Sängerin des Gesangs.
Ich bin die Füchsin, die den Bau verstopft.
Ich bin die, die immer wieder Atem holt
Bis die Zeit selbst kehrtmacht und flieht.«
Nach einer Weile konnte sich Barrick Eddon nicht mehr erinnern, wie es gewesen war, als Saqri nicht gesungen hatte — ihm war, als schaukelte er immer schon auf diesen Wellen, in diesem Dunkel, während die Worte ihres Gesangs ihn umschlangen, ihn berührten, zu ihm flüsterten.
»Ich bin der Schwan des diesseitigen Ufers!
Gefährlich! Schön!
Ich bin die Lampe, die den Weg erhellt!
Das Feuer, das die Schatten frisst!
Ich bin der Eisenvogel, der beendet, was nicht sein soll!
Fürchtet mich, wenn ihr mir Unrecht getan habt.
Ich bin alle meine Mütter
Ich bin jede.
Ich bin die Toten.
Ich bin die Lebenden, die noch nicht geboren sind.
Ich bin die, die der Mond liebt
Und fürchtet ...«
Er war jetzt etwas, erkannte er, das noch nie gewesen war, und er kehrte in ein Zuhause zurück, das nicht mehr seines war, so es das je gewesen war. Sie waren alle dem Untergang geweiht, aber Dunkel war das Einzige, das dem Licht Gestalt gab. Er war auf dem Weg nach Hause, und die Allmutter sang unter dem aufgehenden Mond, ein Lied, das immer weiterging, immer im Kreis ...
»Ich bin alle meine Mütter
Ich bin gefährlich! Ich bin schön!
Und alle meine Töchter bin ich auch ...«
ZWEITER TEIL - DIE SCHILDKRÖTE
15
Ketzerei
»Aristas brachte ihm Freundlichkeit entgegen und unterwies ihn im Glauben an die wahren Götter, die Drei Brüder, und so wurden sie bald Freunde. Als das Schiff, auf dem beide gefangen waren, im Sturm auf dem Strivothossee sank, half der Waisenknabe Aristas, ans rettende Ufer zu gelangen.«
Der Waisenknabe, sein Leben und Sterben und himmlischer Lohn — ein Buch für Kinder
Das Dorf wirkte, als wäre es schon mindestens ein Jahr verlassen, aber Theron Pelgriner sollte bald erfahren, dass dem nicht ganz so war.
Die kleine Siedlung lag an einer Biegung des Flusses, dem er gefolgt war, weil die Straßen in dieser Gegend so zugewachsen waren, als hätte sie lange niemand mehr benutzt. Ein paar Dutzend Menschen mochten hier einst gewohnt haben, waren aber offensichtlich schon lange weg: Dornranken überwucherten die Hauswände, die nur aus zugehauenen Ästen und Lehm bestanden. Die Fuß- und Viehwege, die einst zur Hauptstraße des Dorfs geführt hatten, hatte das Gras überwuchert, sodass es aussah, als wären die armseligen Behausungen direkt aus dem Boden gewachsen, ohne menschliches Zutun, wie Pilze.
Es war schon den ganzen Tag grau und drückend mit heftigen Regengüssen, aber was Theron Sorgen machte, war der Horizont. Der Wind frischte auf — die Bäume bogen sich schon —, und im Norden hatten sich Wolken zu schwarzlila Haufen getürmt. Sie schienen bereit, sich jeden Moment über die Hügel heranzuwälzen und ihre Fracht über dem Tal zu entladen, durch das Theron mit seinem Auftraggeber zog, seit sie vor zwei Tagen die südmärkische Grenze überquert hatten.
»Junge«, sagte er zu Lorgan, »geh mal schauen, ob wir in einer dieser Hütten Unterschlupf finden können. Es hat geregnet, also such eine mit trockenem Boden.«
Der Junge sah zu seinem vermummten Herrn hinüber, aber der Mann mit den verbundenen Händen saß auf einem Baumstumpf und nutzte die Gelegenheit für ein kleines Ruhepäuschen. Theron schien es geradezu ein Wunder, dass ein so schwacher und angegriffener Mensch jeden Tag so weit laufen konnte, aber irgendetwas trieb den seltsamen Fremden ganz offensichtlich nach Südmark — wobei Theron keinen Moment lang glaubte, dass sie auch nur annähernd so weit kommen würden. Im Gegenteil, da diese Lande immer verlassener und geisterhafter wurden, stand für ihn so gut wie fest, dass ihre Reise in einer der Ortschaften am Ufer der Brennsbucht enden musste, wo sie in wenigen Tagen anlangen würden. Wenn sein seltsamer Reisegefährte unbedingt auf eine im Kriegszustand befindliche Burg wollte, würde er selbst zusehen müssen, wie er dorthin kam.
»Nun
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