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Das Herz

Das Herz

Titel: Das Herz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams
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habe? Wie könnte ich damit leben?
    Sie war es ihrem Volk ebenso schuldig wie sich selbst, befand sie. Das Beste für Südmark wäre es, wenn Olin wieder freikäme.
    Doch diese Fragen machten ihr immer noch zu schaffen, als sie den kleinen Handspiegel nahm, den ihr Feival einst geschenkt hatte, und sich dicht an die Kerze beugte. Sorgfältig verrieb sie feuchten Dreck auf ihrem Gesicht, zuerst nur dünn, um ihren gesamten Zügen etwas Dunkleres und Gröberes zu geben, dann aber dicker um die Augen und in den Wangenkuhlen, damit sie ausgemergelter wirkte. Sie musste erheblich älter aussehen und weit weniger gesund, wenn sie nicht mehr als eine flüchtige Inspektion auf sich ziehen wollte. Selbst hier im Lager der Tempelhunde, wo sie durch die Macht des Prinzen selbst geschützt war, starrten sie die Männer an, wenn sie glaubten, sie merkte es nicht — und manchmal sogar, wenn sie wussten, dass sie es sehr wohl merkte. Eine Frau in einem Heerlager erregte immer Aufmerksamkeit, es sei denn, sie war
sehr
unappetitlich. Briony hatte den ganzen Tag darüber nachgedacht, wie sie sich weniger interessant machen könnte, und ein paar Ideen waren ihr gekommen.
    »Bei den Dreien, was habt Ihr da im Gesicht?« Eneas wich erschrocken zurück. »Seid Ihr verletzt?«
    Sie lachte, obwohl ihr gar nicht fröhlich zumute war: Der Anblick des Prinzen in voller Kampfesrüstung hatte sie wieder daran erinnert, dass sie nicht die Einzige war, die ein hohes Risiko einging. »Es ist eine Wunde aus Dreck und etwas Beerensaft. Keine Angst, das Blut ist nicht echt.«
    »Ich hoffe, es ist die einzige Wunde, die ich heute sehen muss«, sagte er. »An Euch und an allen anderen.«
    »Vielleicht werden ja ein paar Xixier bluten«, sagte Helkis mit einem harten Lachen. »Oder sogar ein paar Zwielichtler.«
    Eneas schüttelte den Kopf. »Nein. Ich mache nicht zweimal denselben Fehler, Miron. Solange wir nicht genauer wissen, was diese ... Qar vorhaben, werden wir sie so behandeln, wie wir Markenländer behandeln würden, und ihnen nichts zuleide tun, wenn es nicht sein muss.«
    Er war so ein anständiger Mensch. Warum konnte sie nicht mehr für ihn empfinden? »Mögen die Götter Euch und all Eure Männer wohlbehalten zurückbringen, Prinz Eneas«, sagte sie.
    »Und was wird dafür sorgen, dass
Ihr
wohlbehalten zurückkehrt?« »Meine Verkleidung«, sagte sie, so munter sie konnte, und zeigte auf ihr Gesicht. »Und meine Raffiniertheit.«
    »Ich bete zu den Drei Brüdern, dass Ihr recht behaltet.« Ehe sie sich's versah, ergriff er ihre Hand und führte sie an seine Lippen. »Passt auf Euch auf, Prinzessin Briony.«
    Je näher sie dem Heerlager des Autarchen kam, desto größer wurde ihre Angst. Es half auch nicht gerade, dass der Kundschafter, der sie über die Hügel führte, ein wortkarger Südsyanese war, dessen Dialekt sie ohnehin kaum verstand.
    Und wenn sie mich gefangen nehmen? Ich fürchte ja gar nicht so sehr um mich —
was sie natürlich doch tat, wie auch nicht? —,
aber was würde dann aus meinem Volk? Habe ich das Recht, dieses Risiko einzugehen?
    Aber das konnte sie natürlich nicht beurteilen, nicht von hier aus. Sie unterstellte, dass die Leute sie oder ihren Vater brauchten — dass sie ohne einen Herrscher oder eine Herrscherin aus dem Hause Eddon unglücklich wären, aber vielleicht stimmte das ja gar nicht. Vielleicht waren sie ja mit Hendon Tolly ganz zufrieden?
    Aber sie stehen ja unter Belagerung,
rief sie sich in Erinnerung.
Damit können sie wohl kaum zufrieden sein.
    Als sie sich dem Hügelkamm näherten, wurde das ferne Grollen, das sie kaum wahrgenommen hatte, sehr viel lauter. Briony begriff jäh, dass es kein Gewitter irgendwo am wolkenverhangenen Himmel war, sondern das unablässige Feuern der xixischen Kanonen — Kanonen, die auf Südmarksburg gerichtet waren.
    Als sie und der syanesische Kundschafter einem Wildwechsel auf dem Hügelkamm folgten, tat sich plötzlich am Hang unter ihnen eine Schneise auf, und sie erblickte zum ersten Mal seit Monaten die weite, graugrüne Fläche der Brennsbucht und davor Südmarkstadt, das erstaunlich normal aussah mit den grauen Rauchfähnchen der Kamine. Durch den Schleier aus Rauch und tiefhängenden Wolken erkannte sie in der Ferne Südmarksburg.
    Aber der Rauch kam gar nicht aus Kaminen, merkte sie gleich darauf, sondern von den Kanonen, die die Armee des Autarchen auf der Küstenmauer und am Strand in Stellung gebracht hatte. Die langen Geschütze knallten immer und immer

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