Das Herz
das Geld, das sie Daikonas Vo gestohlen hatte, von hier fortbrächte, ohne Fragen zu stellen. Wenn Vo sie zum Lager des Autarchen in Südmark hatte bringen wollen, wäre ihr jedes Schiff recht, das in die entgegengesetzte Richtung fuhr. Aber was dann? Nach Xis konnte sie nie mehr — das wäre ihr sicherer Tod. Aber Hierosol, die einzige andere Stadt, die sie kannte, befand sich ebenfalls in der Gewalt des Autarchen. Wo also sollte sie hin?
Qinnitan starrte über die Bucht auf den Sonnenuntergangshimmel über Südmark. In Abständen trug der Wind ein dumpfes Knallen heran — jetzt erst wurde ihr bewusst, dass es Kanonenfeuer war. Es mussten die Kanonen des Autarchen sein, die, die er auch benutzt hatte, um die Mauern Hierosols dem Erdboden gleich zu machen. Und hier stand sie, nur durch das Wasser der Bucht von ihm getrennt! Sie zuckte zusammen und wich einen Schritt zurück, als ob er plötzlich über die Bucht greifen könnte.
Irgendwohin, nur nicht hier bleiben,
sagte sie sich.
Nicht hier.
Der Markt von Onir Beccan war der beste und größte Fischmarkt von ganz Wildeklyff, und ein nicht unbeträchtlicher Anteil am Erlös der Fischer aus der ganzen Brennsbucht floss seit mindestens zweihundert Jahren dem Grundherrengeschlecht der Aldritchs zu. Onir Beccan war ein lebhafter, florierender Ort, woran seltsamerweise auch der Krieg gleich auf der anderen Buchtseite nichts änderte, und es war für Qinnitan die erste richtige Stadt seit Agamid. Als sie über den Marktplatz ging, durch das Gewimmel von feilschenden Bürgern, eiligen Köchen, Stallknechten, Gastwirten und betrunkenen Marrinswalker Seeleuten, erinnerte es sie an das Hafenviertel des Großen Xis, das sie seit ihrer Kindheit nur ein einziges Mal wiedergesehen hatte: in der Nacht ihrer Flucht aus dem Frauenpalast. Jetzt wäre es ihr vielleicht nicht mehr so beeindruckend erschienen, doch als sie an das verrückte Menschengedränge dort im Hafen dachte, an die Bilder, Geräusche und Gerüche, die es an keinem anderen Ort der Welt alle zugleich geben konnte, überkam sie plötzlich schreckliches Heimweh nach der Umgebung, in der sie aufgewachsen war, und den Menschen, die sie als Kind gekannt hatte. Aber ihre Eltern hatten sie praktisch verkauft, rief sie sich ins Bewusstsein, und ihr Kindheitsfreund Jeddin hätte beinah ihren Tod verschuldet, also was bitte vermisste sie so?
Trotzdem, im Hafen von Xis hatte sie glückliche Momente erlebt. Sie erinnerte sich, wie sie einmal mit ihrem Vater dort gewesen war, als er sich nach einer Arbeitsstelle für ihren älteren Bruder umgetan hatte. Während er mit dem Hafenaufseher geredet hatte, war die kleine Qinnitan umhergestreunt und für eine Weile ganz allein in eine phantastische Welt von Träumen, Wundern und Rätseln eingetaucht. Sie hatte einen Mann gesehen, der Affen verkaufte, und einen anderen, der mit Papageien handelte. Und einer der Affen war entwischt und zwischen den Papageien herumgeklettert, und das war ein Gekreische und Geschrei gewesen! Und sie hatte eine echte Hexe gesehen, eine Frau, die von zwei Trägern in einer Sänfte den Kai entlanggetragen wurde, eine gehässige Alte mit schweren goldenen Halsketten und dem Gesicht einer Meeresschildkröte, und alle Leute hatten sich abgewandt und das Abwehrzeichen gegen das Böse gemacht oder auf den Boden gespuckt.
Und außerdem hatte Qinnitan einen Mann gesehen, der an seinen Krücken tanzte, obwohl er keine Beine hatte, und einen anderen, der seine Haut in Brand stecken und dann die Flammen wieder ausblasen konnte. Beide hatten ihre Kunststückchen für Kupfermünzen vorgeführt. Und sie hatte auch Kinder singen und tanzen sehen, Kinder, von denen viele keine Eltern zu haben schienen. Und obwohl sie noch so klein gewesen war, hatte sie sie doch ein bisschen beneidet.
Jetzt, mindestens zehn Jahre später, hier in der Fremde, weit, weit weg von zu Hause und ohne jede Aussicht, je wieder ein Zuhause zu haben, bekam sie plötzlich wieder etwas von dem Gefühl von damals zu fassen, dem Gefühl, allein zu sein, aber nicht einsam, sich selbst zu genügen. Denn was sonst konnte man ...?
Qinnitan prallte gegen etwas und fand sich plötzlich in schweren Stoff verwickelt. Sie fiel hin, und eine massige Gestalt stolperte über sie und presste dabei ihr Knie und ihren Ellbogen so fest aufs harte Pflaster, dass sie vor Schmerz aufschrie und sogar kurz fluchte.
Erst als der Mann seinen Mantel losriss und sie dabei beinah wieder umwarf, erkannte sie, dass sie mit
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